Papierzauberer in Lehesten

Vorhang auf! Hans-Günter Papirniks Thespiskarren. Foto: Wolfgang Brauer (2024)

Im 18. Jahrhundert waren Ausschneidebögen große Mode: Modedrucke samt passenden Accessoires wie Täschchen, Sonnenschirmchen, Perücken zum Wechseln. Oder auch Soldaten mit verschiedensten Uniformen und Waffen. Auch historische Themenbögen gab es, vorzüglich Antikes vonwegen der Bildung… Dazu für den Spielhintergrund verschiedenste Schloss-Vedouten oder Festungsanlagen oder was auch immer. Was lag also näher, als diese Dinge beweglich zu machen?

Das war ganz einfach: Ausschneiden, die Figuren auf Pappe kleben und an einem Stäbchen befestigen. Dazu wurde ein Rahmen aus Pappe, haltbarer war er natürlich aus Sperrholz, ausgeschnitten – etwa 30 x 40 cm –, bemalt und an der Tischkante, besser noch auf einem separaten Pult befestigt. Fertig war das Papiertheater!

Die Bühne selbst bestand – und besteht – zumeist aus einem breiteren Brett, das mehrere eingefräste Nute aufweist. Wenn die Figuren nicht frei an Spielstäben geführt werden, können sie auf schmalen Führungsleisten angeklebt in „ihrer“ Nut hin- und hergeschoben werden. Aber bei dieser Spielweise immer nur von den „Seitenbühnen“ („Durch diese hohle Gasse muss er kommen!“). Von dort werden wie im Barocktheater auch die in der Regel selbst gemalten Kulisssen eingeschoben. Ein „Bühnenturm“ ist aufwändig und eigentlich professionelleren Theatern vorbehalten. Mit entsprechender Beleuchtung und Lichteffekten – in der Wachskerzenzeit muss es aus Gründen der Kunst häufiger zu Wohnungsbränden gekommen sein… – und Geräuschen vom prasselnden Regen durch Erbsen auf die Tambourinmembran und dem Donner durch Knallfrösche und natürlich selbstgemachter musikalischer Begleitung muss das bei den Familienabenden unserer Ahnen einen ungeheuren Eindruck gemacht haben!
In der Biedermeierzeit erfreuten sich diese „Zimmertheater“ größter Beliebtheit. Im letzten Drittel des 19. Jahrhundert gab es dann etliche Profi-Papiertheater, bis dieses merkwürdiges Kind Thalias zum bloßen Kinderspielzeug verkam und nach 1945 fast in Vergessenheit geriet. Etwa zeitgleich mit der Rehabilitierung von Romantik und Biedermeier seit den 1960er-Jahren kam auch das Papiertheater wieder zum Vorschein. Von einer „Renaissance“ kann man wahrscheinlich nicht reden, aber es lebt wieder und hat eine erstaunlich agile und kreative Gemeinde.

An diesem Wochenende kann man es in Thüringen dort erleben, wo man es kaum erwarten würde: In den zumeist leer stehenden Räumlichkeiten auf dem Schiefer-Zechengelände des ehemaligen Staatsbruchs Lehesten. Auf Initiative von Leanthe und Ludwig Peil findet dort vom 9. bis zum 11. August 2024 das mittlerweile achte (!) „Thüringer Figurentheater-Fest“ statt. Dass es hauptsächlich Papiertheater-Bühnen sind, die eingeladen wurden, hat mit den Organisatoren zu tun: Die Peils betreiben im benachbarten Schmiedebach ein Papiertheater-Museum. Dazu aber später noch einmal…

Dieses kleine Festival ist durchaus beachtlich: 14 Bühnen bringen 16 Inszenierungen in 47 Aufführungen an das Publikum. Dabei muss man allerdings sagen, dass die Zuschauerzahl aufgrund der bühnentechnischen Gegebenheiten immer streng begrenzt ist. Bei Rahmenmaßen der Bühnen von höchstens 40 x 60 cm geht das nicht anders. Schließlich sollen alle alles sehen und hören. Aber mit diesen Kleinstbühnen, den sehr intimen Räumen und der minimalen Zuschauerzahl schaffen es diese Theaterchen oft, ein Kunsterlebnis wundersamster Art zu bereiten.


Fast wie ein Familienfest: Die Papiertheatergemeinde in einer Spielpause. Foto: Wolfgang Brauer (2024)

Wir haben am Eröffnungsabend des Lehestener Festivals zunächst Hans-Günter Papirnik aus Essen mit „Papirniks Papiertheater“ erlebt. Papirnik macht ausschließlich Musiktheater und gab an diesem Abend Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ in einer auf 42 Minuten gekürzten Fassung. Papirnik führt seine Figuren an Spielstäben von oben – grandios! Sein eigen-konstruierter Bühnenwagen (mit „Bühnenturm“!) passt zusammengeklappt mit 74 cm Breite übrigens durch jede Wohnzimmertür.

Mit Oper ging es weiter. Gabriele Brunsch aus Kitzingen („Papiertheater Kitzungen“) hat für ihre klitzekleine Bühne eine 50-minütige Fassung von Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ hergestellt. Das war tatsächlich zauberhaft. Mit einem geradezu glücklichen Händchen für die Strichfassung und einem noch glücklicheren für das Bühnenbild und die Lichtregie hat sie es geschafft, ihr an diesem Abend fast durchweg professionelles Publikum – das kleine Festival hat schon etwas von einem sehr angenehmen „Familientreffen“ – in Bann zu schlagen. Dass das Wagnersche Singspiel streckenweise recht pathetisch daherkam, liegt an Wagner. Aber dass Kapitän Daland sein Töchterchen Senta regelrecht verhökert, spielt Gabriele Brunsch deutlich heraus. Dass das „liebe Kind“ (Daland) Senta erst knapp 14 ist, habe ich angesichts der Heroinen, mit denen die „richtigen Opernhäuser“ die Partie gerne besetzen, erst dank des Papiertheaters Kitzingen begriffen. Übrigens hatte Brunsch den mittlerweile ebenso wie Carl Maria von Webers „Jägerchor“ abgenuddelten Matrosenchor des „Holländers“ („Steuermann, halt die Wacht…“) gnadenlos gestrichen. Aber eindrucksvoll gestaltete Matrosen in weiten blauen Hosen kommen bei ihr wieder vor…

Vorhang! Und ganz anders ging es weiter. Kolja Liebscher aus Frammersbach im Main-Spessart-Kreis ließ für seine „Schatten- & Puppenspielbühne Kolja Liebscher“ nicht den Vorhang aufgehen, sondern knipste das Licht an. Schattenspiel eben. Liebscher hatte sich Hans Sachsens Fastnachtsspiel „Der Teufel nahm sich ein altes Weib“ vorgenommen und daraus ein „Schattenspiel für Erwachsene“ gemacht.

Kolja Liebschers Akteure. Foto: Wolfgang Brauer (2024)

Nun ist Hans Sachs aus vielfachen Gründen ein durchaus problematischer Geselle (nicht nur in Zeiten heutiger „Wokeness“, das war er schon zu seinen Lebzeiten), aber was Liebscher mit dem Text anstellt und wie er ihn mit seinen Figuren umsetzt, das bietet 35 Minuten fröhlichen Erkenntnisgewinn und ein handfestes Fazit am Schluss: „Für Teufel gibts kein Hochzeitglück.“

Ein trauriges Ende für den armen Teufel. Ein glückliches Ende nimmt dagegen Tina Raus Kinderbuch (und das darauf basierende Kinder-Musical) „Kennt ihr Blauland?“ Stefan und Susanne Schweig aus Buseck bei Gießen („Papiertheater Kleine Auszeit“) zeigten ihre märchenhafte Fassung open-air am Rande des stockfinsteren Schieferbruchs zum Ausklang des Abends. Bühne und Figuren strahlten dadurch eine ganz besondere Poesie aus. Die Inszenierung selbst, wie ich finde, ist ein schönes und deutliches Zeichen dafür, dass diese Art Theater eben keine pure Biedermeier-Nostalgie, sondern sehr im Heutigen verankert ist. Die Schweigs sind mit ihrem Stück aus gutem Grund zu „Rock gegen rechts“ eingeladen worden.

Mein Fazit: Ich durfte am 9. August in Lehesten eine Art Theater entdecken, das ich bislang in der Schublade „Liebenswertes aus der Kulturgeschichte“ abgelegt hatte. Aus der habe ich es wieder herausgeholt. Dafür bin ich den Peils und den von ihnen eingeladenen Theaterleuten sehr dankbar.

Übrigens: eine Gemeinsamkeit zur Biedermeierzeit gibt es durchaus. Großes Vermögen kann man mit dieser Kunst nicht anhäufen. Das ist etwas für Enthusiasten. In Lehesten spielten die Theater, wie mir Ludwig Peil erzählte, für freie Kost und Logis… Wie zu Zeiten „Pole Poppenspälers“. Den öffentlichen Kulturfinanzierern sollten jetzt eigentlich die Ohren klingeln. Und den Peils wünsche ich sehr, dass sie durchhalten. Für die Kunst, für das Publikum, für die Theatermacher – und auch für sie selbst.

(10. August 2024)

7 Kommentare

  1. In Berlin-Biesdorf gibt es ja auch so ein „Papiertheater“. Ich war noch nicht da, habe es mir nach dem Lesen des sehr informativen Beitrags fest vorgenommen.

    1. Es ist das „Papiertheater an der Oppermann. Josephina Kemme, Aldona und Holger Kosel“. Sie sind in Lehesten gleich dreimal mit ihrem Stück „Der bemerkenswerte Raketerich“aufgetreten.
      Leider hab ich das nicht sehen können. Aber vielleicht in Biesdorf?

    2. Das ist in Berlin Marzahn und heißt „Papiertheater an der Oppermann“ – so ist es auch im Internet zu finden. Zudem gibt es seit Neuestem in Berlin das Papiertheater Gunniville in Schöneberg.

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