Menschen als Marionetten? Wie Marx und Engels die reale Psyche in ihrer Lehre verdrängten (Auszüge)

von Andreas Peglau

Vorbemerkung
In der Berliner Zeitung vom 19./20. Oktober sinniert Katja Hoyer über die Gründe des Niedergangs der europäischen Mitte-Links-Parteien und deren inzwischen unübersehbare Entfernung von ihrer einstigen Kernklientel, der Arbeiterschaft. Mit Blick auf Deutschland meint sie zuvörderst die SPD, die klassischen Arbeiterpartei des Landes. Die Linkspartei würdigt sie in dieser Frage zu Recht nicht eines Wortes. Mit Blick auf die Wahlergebnisse des Jahres 2024 versteigt sie sich aber zu einer steilen These: Die AfD laufe der SPD den Rang als Arbeiterpartei ab. „In Thüringen, Sachsen und in Brandenburg wählte jeder zweite Arbeiter die AfD.“ Richtig, das zeigen die Wahlanalysen, aber die AfD deswegen als „Arbeiterpartei“ einzustufen ist schon ein eigenwilliger Umgang mit diesem Begriff. Hoyers Erschrecken selbst ist nicht neu. Didier Eribon kam bereits 2009 in „Rückkehr nach Reims“ zu einem ähnlichen Befund. Auch den französischen Arbeiterparteien kam die Arbeiterschaft abhanden. Spannt man den Gedanken-Bogen weiter, kommt man unweigerlich zu der Fragestellung, warum in drei Teufels Namen sich die Arbeiterklasse dermaßen gründlich von ihrem eigenen Theoriegebäude – jedenfalls erklärten ihre selbsternannten „Avantgarde“-Parteien die Marxsche „Weltanschauung“ dazu entfremdet hat. Oder war da schon immer eine innere Distanz, waren da schon immer Risse im ideologischen Gebälk, die es leicht machten und machen, auf marxistischer Basis beruhende linke Politik- und Gesellschaftsentwürfe durch „richtig rechte“ zu verdrängen und ihnen eine Massenbasis zu verschaffen, von der Linke nur noch träumen können? Andreas Peglau, Psychoanalytiker und Publizist, hat sich gravierende Fehlstellen im Denken von Karl Marx und Friedrich Engels vorgenommen. Der hier vorzustellende Essay „Menschen als Marionetten? Wie Marx und Engels die reale Psyche in ihrer Lehre verdrängten“ ist Ergebnis seiner Analysearbeit. Aus Platzgründen kann ich hier nur Auszüge aus der Einleitung („Ausgangspunkte“) bringen, das Fazit seiner Überlegungen „Bilanz“ gebe ich vollständig wieder.
Peglaus Text ist über diesen Link frei und vollständig im Netz zugänglich
.
Was hier nur verknappt skizziert werden konnte, findet sich dort ausführlich argumentiert und ist durch für alle Interessierte leicht erschließbare Quellen belegt.
(W. Brauer)


Covergestaltung: Jan Petzold, unter Verwendung eines Fotos von Sergey Khakimullin.

Ausgangspunkte

[…] Heute, da der US-geführte „Westen“ in Kauf nimmt, den gesamten Planeten für den Erhalt seiner „regelbasierten“ Hegemonie zu zerstören, besteht mehr denn je die Notwendigkeit, Alternativen zu finden zu verantwortungsloser Profit- und Machtgier, Kriegstreiberei und Lebensfeindlichkeit. Als eine solche Alternative verstand sich der in mehreren Ländern zumindest in Ansätzen praktisch erprobte Sozialismus. Dessen wichtigster theoretischer Ansatzpunkt war die – im Rahmen des „Marxismus-Leninismus“ oft verzerrt dargebotene – Lehre von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895). Der „reale Sozialismus“ wurde frühzeitig insbesondere durch den Staatsterror unter Stalin, später unter Mao Tse Tung und Pol Pot massiv diskreditiert, brach um 1990 zusammen. Seither gelten derartige Konzepte meist als dauerhaft entwertet und Kapitalismus als alternativlos. Schon weil Marx und Engels sinnvollerweise gar nicht erst versucht haben, Programme für künftige Gesellschaften abzufassen, ist es falsch, ihnen deren Misslingen anzulasten. Am Staatsterror tragen sie ohnehin keine Verantwortung. Wer bislang noch nicht weiß oder wissen wollte, dass auf kapitalistischer Ausbeutung beruhende Systeme ungerecht sind und daher „umgewälzt“ werden sollten, wer wichtige, diesen Systemen zugrundeliegende sozioökonomische Abhängigkeiten und Zusammenhänge verstehen will, wer sich für daraus abgeleitete Annahmen über frühere und künftige gesellschaftliche Ordnungen interessiert, der kann nach wie vor vieles Wertvolle schöpfen aus der Hinterlassenschaft von Marx und Engels. Aber lässt sich daraus ableiten, in ihrer Lehre fänden sich schlüssige Annahmen darüber, wie Ausbeutung und Unterdrückung beendet werden können – oder gar das geistige Rüstzeug, um unsere aktuelle nationale wie auch globale Krise für konstruktive Veränderungen zu nutzen?
Nein. Denn diese Lehre ist nicht nur unabgeschlossen, beschränkt in Inhalt und Geltungsbereich sowie zum Teil veraltet. Sie leidet vor allem an einem nie behobenen Kardinalfehler: dem „ökonomistischen“ Ausgrenzen der realen Psyche – und damit an der Ausgrenzung dessen, was das Entscheidende ist am Menschsein.
[…]

Bilanz

Frühzeitig ins Zentrum der Anschauungen von Marx und Engels gerückt, verharrten dort lebendig anmutende, scheinbar eigenständig agierende Dinge und Prozesse sowie – als deren Anhängsel, Marionetten, Sklaven – hilflose, zombieartige Menschen. Über all dem thronten „immanente“ sozialökonomische Gesetze, welche die enormen Erklärungslücken verdeckten: Was gesetzmäßig passierte, bedurfte ja keiner weiteren Begründung. Im Kapitalismus fungierte als Vollstrecker dieser Gesetze das bluttriefende Kapital-Monster.

„Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschenist aber der Mensch selbst.“ Mit dieser, 1843/44 formulierten These hätte Marx sein späteres Werk nicht überschreiben können. Passender wäre: „Die Wurzel für den Menschen sind ökonomische Gesetze.“ Den Platz des durch die Aufklärung vertriebenen Gottes hatten andere, ähnlich mächtige Wesenheiten übernommen. Marx, der bei bürgerlichen Ökonomen kritisierte, dass sie wirtschaftliche Zusammenhänge „mystifizierten“, schuf eine neue Mystifikation. Das Ökonomieprimat zu erforschen und zu belegen, scheint zur Priorität, fast zur Obsession geworden zu sein, der er in egozentrischer Weise auch Ehe und Familie unterordnete.

Die Frage, ob die Lehre von Marx und Engels statt als „Materialismus“ besser als „Ökonomismus“ bezeichnet werden müsste, halte ich für berechtigt. „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel“ – für Teile ihrer Ansichten trifft dieser Spruch zu. Sie schrumpften den Menschen ihren Prämissen gemäß zusammen und konnten ihn daher simplifiziert darstellen: als Randerscheinung des Eigentlichen. Die „wirklichen Individuen“, die sie 1845, zu Beginn der „Deutschen Ideologie“ ins Auge zu nehmen versprachen, hatten sie schon wenige Zeilen später aus dem Blick verloren; die „Einrichtung“ des Kommunismus stellten sie sich schon damals als „wesentlich ökonomisch“ vor.

1857/58 spitzte Marx zu, die „Gesellschaft besteht nicht aus Individuen“, in ihr würde sich nur „die Summe der Beziehungen, Verhältnisse“ ausdrücken, „worin diese Individuen zueinander stehen“ – zwischenmenschliche Beziehungen also ohne Menschen: ein unauflösbarer Widerspruch. Wenn sich Marx dann im „Kapital“ explizit mit kapitalistischer oder bürgerlicher „Gesellschaft“ befasste, beschränkte sich das fast durchweg auf Wirtschaftliches; seine Darstellung von Menschen konzentrierte sich auf das gesichtslose Maskenträgerduo Lohnarbeiter-Kapitalist.

Doch zur kapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gehörten große, heterogene Gruppen, die nicht an der industriellen Produktion teilnahmen, sei es wegen ihres Alters (Kleinkinder, alte Menschen), wegen ihrer sozialen Stellung (bürgerliche Kinder und Ehefrauen), ihres Lebensraumes (die Landbevölkerung), wegen Krankheit oder Arbeitslosigkeit, zudem die auch individuelle Interessen durchsetzende Minderheit machtvoller Politiker. Schon weil sich Marx und Engels ihnen allen höchstens nebenher widmeten, erfassten sie Kapitalismus nicht als Gesellschaftsordnung.

Der marxistische Historiker Edward Thompson wies bereits in den 1970er-Jahren darauf hin, dass Marx den Anspruch, mittels Analyse des Kapitals zugleich die kapitalistische Gesellschaft darzustellen, auch deshalb nie einlösen konnte, weil die Gesellschaft „aus zahlreichen Tätigkeiten und Verhältnissen (von Macht, von Bewußtsein, sexueller, kultureller, normativer Art)“ bestehe, „die nicht Gegenstand der politischen Ökonomie sind, sondern von ihr ausgegrenzt werden und für die sie keine Begriffe hat“.

Schaut man genauer hin, stellt man allerdings fest, dass Marx und Engels – auch an Stellen, wie ich sie in meinem Text kritisiere – mehr von dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit erfasst hatten, als ihnen selbst bewusst war. Massenpsychologische Effekte, im Interesse der herrschenden Klassen durch Erziehung, religiöse und andere Indoktrination herbeisozialisierte, zum Gesellschaftssystem passende Persönlichkeitsstrukturen und -störungen mutierten in ihrer Darstellung zu unvermeidbaren, ökonomisch erzwungenen Handlungsmustern. Die Einsicht, die sie sich dadurch verbauten, war: Diese Handlungsmuster, die Wirkungsweise dieser Indoktrination, die dahinterliegende psychosoziale Realität kann begriffen und sinnvoll verändert werden.

Abgesehen davon, dass Marx und Engels gelegentlich auf „vulgärpsychologische“ Weise in die Proletarier hineinlegten, was sie sich von ihnen erhofften, ist der Tenor ihrer Lehre: Wir sind weder verantwortlich für unsere wesentlichen Lebensumstände noch haben wir die Möglichkeit, diese Umstände eigenständig gravierend umzugestalten.

Sie selbst haben freilich den 1845 von Marx erhobenen Anspruch erfüllt, dass es darauf ankommt, die Welt „zu verändern“. Für die von ihnen als notwendig empfundenen Veränderungen haben sie sich lebenslang engagiert. Und hier, meine ich, findet sich die entscheidende Begründung für die Wirkung und Nachwirkung ihres Schaffens. Sie erkannten und bewiesen auf ökonomischem Gebiet, dass Ausbeuterordnungen – zu denen die kapitalistische zählt – menschenunwürdig sind und darum „umgewälzt“ werden müssen. Doch dabei blieben sie nicht stehen. Vor allem durch Publizistik und das Initiieren und Inspirieren sozialistischer Organisationen trugen sie dazu bei, dass sich diese Erkenntnisse verankerten und diejenigen erreichten, die es am meisten anging.

Marx hatte 1844 geschrieben, „die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“. Das erhoffte er sich vermutlich auch für seine eigenen Anschauungen. Es waren in erster Linie Schriften von Engels, welche dies wahrmachten. Letzterer gab 1886 zwar auch bekannt, das „Kapital“ werde inzwischen „oft ‚die Bibel der Arbeiterklasse‘ genannt“. Aber den nach mehrfacher Bearbeitung noch immer oft hochkomplizierten, weitschweifigen und detailversessenen „Kapital“-Bänden mit ihren unzähligen Schachtelsätzen und Wiederholungen lässt sich beim besten Willen keine Massentauglichkeit bescheinigen.

Die Vereinseitigungen und Verabsolutierungen von Marx und Engels hatten Konsequenzen für die verschiedenen, nach Engels‘ Tod entworfenen „Marxismen“. Jene ihrer Anhänger, die auf kritisches Hinterfragen verzichteten – also die meisten – konnten sich in trügerischen „Gewissheiten“ über den Geschichtsverlauf wiegen, die wiederum irreale politische Orientierungen nach sich zogen: Unser Sieg ist unvermeidlich. Oder, in der Fassung von SED-Generalsekretär Erich Honecker vom August 1989, ein Vierteljahr vor dem Fall der Berliner „Mauer“: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“

Darüber hinaus konnte man sich einreden, tiefgründige Nachforschungen zur tatsächlichen Bewusstseinslage der Arbeiterschaft oder gar zur gesamten psychosozialen Verfassung der Bevölkerung seien unnötig: Die „Klassiker“ hätten dies ja abschließend geklärt.

Doch entgegen aller Verlautbarungen gab es zu keinem Zeitpunkt eine seriöse sozialwissenschaftliche Grundlage für die Gestaltung des DDR-Staates, für den Aufbau von „Sozialismus“ – nun, fast am Ende meines Textes angekommen, bin ich mir sicher über diese bittere Erkenntnis. Die positive Nachricht ist: Was es nicht gab, ist auch nicht gescheitert. Es lohnt sich, einen neuen, anderen Anlauf zu nehmen.

Weder sind Marx und Engels schuld an der verzerrten Nachnutzung ihres Werkes noch haben sie die autoritären Charakterstrukturen in ihrer Anhängerschaft zu verantworten. Wer so mutig wissenschaftliches und politisches Neuland betritt wie diese beiden, kommt nicht umhin, Fehler zu machen. Genauso unvermeidlich ist es, dass sich in umfangreichen geistigen Hervorbringungen die Persönlichkeitsstruktur ihrer Schöpfer niederschlägt, unbewusste seelische Probleme inklusive. Wie ich mir Letzteres bei Marx und Engels vorstelle, habe ich eingangs unter dem Stichwort „Verdrängung“ skizziert.

Die folgenden Generationen hätten diese Unzulänglichkeiten identifizieren und korrigieren statt festschreiben und verschärfen sollen. Aber, wie gezeigt: Für die missbräuchliche Verwendung ihrer Gedanken haben Marx und Engels eine Reihe von Steilvorlagen geliefert.

Selbstverständlich haben sie auch vieles hinterlassen, was als Basis getaugt hätte, um Lücken zu verkleinern und Neues zu integrieren. Einiges davon – wie die Relativierungen des „Gesetzes“-Begriffes im „Kapital“ oder Stellen aus Alters-Briefen von Engels – habe ich benannt.

1845 hatten sie notiert, dass „die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen“. 1848, im „Kommunistischen Manifest“, teilten sie ihre Erwartung mit, anstelle der „bürgerlichen Gesellschaft“ werde „eine Assoziation“ treten, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.

1875 prognostizierte Marx, in einer „höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft“ gelte das Motto: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“
Doch Max Stirner, der versuchte, Hindernisse und Ziele freier Entwicklung zu erfassen, wurde von Marx und Engels diffamiert. Wer sich wie Wilhelm Reich später der Aufgabe stellte, Wechselwirkungen zwischen Menschen und Umständen ganzheitlicher zu erforschen, herauszufinden, was genau ein freies Individuum auszeichnet, welche Bedingungen es benötigt, um frei zu sein, welche – gesunden! – Bedürfnisse Menschen motivieren, der sah sich bald von Marxisten ausgegrenzt oder verfolgt.

Und so dümpelt das, was auch heute meist unter „Marxismus“ firmiert, weiter vor sich hin als eine Lehre, die „den Menschen“ befreien soll – aber deren Vertreter zumeist gar nicht wissen wollen, was Menschen sind.

9 Kommentare

  1. Schon diese Auszüge sind sehr lesenswert. Ja, so jedenfalls meine retrospektive Erfahrung, wem der Marxismus einst nahegebracht wurde, der konnte diese Leerstelle in der Lehre eigentlich nicht übersehen. Ebenso unübersehbar war selbst für Atheisten, dass die Kirche abzüglich ihres spirituellen Selbstverständnisses sich mehr mit dem Menschen auskannte als jene, die die Befreiung eben dieses Menschen (als dem Einzelnen!) auf ihre Fahne geschrieben hatten.
    Adam Schaff, der polnische Philosoph und Marxist, hat sich einst bemüht, in seiner Schrift „Marxismus und das menschliche Individuum“ zusammenzutragen und zu interpretieren, was M&E diesbezüglich hinterlassen haben.
    Mit Bezug darauf stellt er fest: „Insofern kann man auch behaupten, daß die Persönlichkeitstheorie im Marxismus existiert, jedenfalls auf seinem Boden möglich ist, dagegen ist damit nicht gesagt, daß eine solche Theorie auf dem Boden des Marxismus auch tatsächlich entwickelt wurde. Sie wurde nicht entwickelt und ist nach wie vor ein offenes Problem, umso mehr, als es hier nicht um philosophische Spekulation geht, sondern um allgemeine Schlussfolgerungen, die sich aus konkreten Untersuchungen der Spezialwissenschaften über den Menschen ergeben: der Psychologie, der gesellschaftlichen Anthropologie, Soziologie und so weiter.
    Dies ist den marxistischen Studien ein vernachlässigtes Gebiet wie überhaupt alles, was mit den Fragen der individuellen und gesellschaftliche Psychologie zusammenhängt. Mit Hilfe der Soziologie des Wissens ist diese Vernachlässigung leicht zu erklären: als aus der Perspektive des Marxismus die Probleme des menschlichen Individuums in den Hintergrund traten, als der Akzent einseitig auf die Analyse der Massenbewegungen verlegt wurde, wurde die Vernachlässigung der mit dem Individuum zusammenhängenden Angelegenheiten zur Regel.“
    (Zitiert nach: Adam Schaff, Marxismus und das menschliche Individuum, rororo 1970)
    ***
    Lieber Herr Peglau, gibt es Ihren (kompletten) Text auch gedruckt?
    Mit freundlichen Grüßen,
    Heinz Jakubowski

  2. Lieber Herr Jakubowski,
    vielen Dank für Ihre Einschätzung und für den Hinweis auf Adam Schaff! Dieses Zitat trifft es wirklich gut.
    Ich hab gar nicht erst versucht, einen Verlag für den Text zu finden. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre erreiche ich mit kostenlosem Herunterladen weitaus mehr Menschen.
    Ich habe aber für mich den Text als Buch herstellen lassen. Das kostet etwa 20 Euro, ist seitenidentisch und im selben Format: A4.
    Falls Sie möchten, dass ich so ein Exemplar auch für Sie herstellen lasse, melden Sie sich bitte. Am besten direkt über meine Emailadresse.
    Herzliche Grüße!
    PS: Ende November werde ich den (stark gekürzten) Text auch als Hörbuch produzieren.

    1. Zur Frage der Veröffentlichung: haben Sie es mal bei Books on Demand oder einem ähnlichen Verlag versucht? – Zum Inhaltlichen verweise ich auf meinen folgenden Kommentar; entstand ohne Kenntnis des Vorhergehenden.

  3. Dazu ist mehr zu sagen, als ich spontan in eine reife Form bringen könnte; ich versuch es also erst mal ins Unreine.
    Die zentrale Schrift von Marx und Engels ist für meine Begriffe das „Manifest der Kommunistischen Partei“: ein Versuch, ein politisches Programm auf rationale Analyse zu stützen.
    Kernpunkt der Analyse ist der Begriff der sozioökonomischen Klassen; eignet sich sehr gut, um historische Entwicklungen zu analysieren; ist schon deshalb auch unscharf.
    Wie M&E den Begriff in ihren konkreten Analysen anwandten, habe ich 2006 in meinem Buch „Die Diktatur der Sekretäre“ ausführlich anhand von Beispielen dargestellt.
    Die Analyse ist im Ansatz richtig, aber naturgemäß unscharf; Engels hat sich im weiteren Verlauf in Vorwörtern zu o.g. Schrift redlich um Korrekturen bemüht.
    Dabei beziehen die Autoren sich selbst in ihre Analyse mit ein: als „Bourgeoisideologen, die sich dem Proletariat angeschlossen haben.“
    Als Weg zur erwarteten Revolution propagierten sie die „Erringung der Demokratie“; von Marx gelegentlich auch als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnet.
    Wie daraus statt dessen eine Diktatur über das Proletariat wurde, habe ich 2010 in meinem Buch „Das Rezept des Dr. Marx“ skizziert.
    Dabei erwies sich Lenin als höchst oberflächlicher Ökonom: er verkündete einfach ex cathedra, in Russland herrschten kapitalistische Verhältnisse.
    Auf die Ökonomie von Marx und dessen methodische Probleme bin ich im ersten Buch eingegangen und glaube, dass sie die Gegenwart sehr gut beschreibt.
    Die Schlusspointe seiner Analyse wurden gekonnt ignoriert: Marx redet da nämlich von DREI großen Klassen und beschreibt ausdrücklich, wie sich die Grundbesitzer ihren Anteil am Mehrwert sichern.
    Aus dieser Klasse stammte auch Lenin, und aufgrund der Schwäche des Proletariats entwickelte sich in Russland ein despotisch organisierter „Bürokratischer Sozialismus“.
    Dessen Lehren bedürfen vor allem erst einmal einer ausführlichen Ideologiekritik.
    Dazu glaube ich einen Anfang gemacht zu haben; weitere Informationen zu den erwähnten Schriften finden sich auf meiner facebook-Seite.

  4. Zu Bernhard Mankwald: Lenin entstammt mitnichten der Klasse der Grundbesitzer, sein Vater war Lehrer …na ja … vielleicht hatte er auch ein Gärtchen hinterm Hause … und er hat auch nicht einfach ex cathedra etwas verkündet. Denn als er „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland“ schrieb, 1896 bis 1899, war er noch ein junger Mann und verfügte über keinerlei Katheder, zudem hat er für diese Schrift vielerlei Quellen ausgewertet, u. a. die Semstwo-Statistiken, und er hat auch nicht behauptet, in Rußland herrsche der Kapitalismus, sondern er spricht, wie es ja auch der Titel sagt, von der Entwicklung dieser Produktionsweise. Ach so, jetzt sehe ich erst: Der Autor spricht ins Unreine. Aber muß man das dann wirklich gleich veröffentlichen?

    1. Lehrer? So hat man es Ihnen gewiss in der Schule erzählt.
      Im erwähnten Buch von 2006 habe ich den Sachverhalt genauer beschrieben:
      „Sein Vater war als Volksschuldirektor wegen seiner Leistungen in den erblichen Adelsstand
      erhoben worden; Lenin gehört also zu jenen Intellektuellen, die aus
      dem russischen Bürokratenadel hervorgingen.“ (S. 109)
      Ganz präzise ist das auch noch nicht; man sollte den Rang wohl eher mit dem eines Schulrats vergleichen.
      Welche Konsequenzen das hatte, habe ich an anderer Stelle ausführlicher behandelt:
      https://das-blaettchen.de/2021/01/kritik-am-sowjetmarxismus-55543.html
      Mein Urteil über Lenins ökonomische Qualifikation stützt sich zum einen auf die von Ihnen erwähnte Schrift, zum anderen darauf, dass er später nie wieder auf die Frage zurückkam.
      Statt dessen implizieren seine umfangreichen Schriften zum Thema „Imperialismus“, dass für Russland die gleichen Gesetze gelten wie für die entwickeltsten kapitalistischen Staaten.
      Und die von mir erwähnte „Cathedra“ ist nicht die des Wissenschaftlers – sondern die des Dogmatikers.
      Auch hierzu andernorts ausführlicher:
      https://das-blaettchen.de/2013/07/lenin-im-politischen-kampf-25862.html
      Übrigens scheint mir Ihre herablassende Haltung dem skizzenhaften Charakter meiner Darstellung gegenüber durchaus in diese Tradition zu passen.
      Zumal Ihnen ja gegen den Rest meiner Beweisführung offenbar nicht einmal derart fragile Argumente eingefallen sind.

  5. Ich arbeite mich mal von hinten nach vorn vor.

    Lieber Heinz Jakubowski,
    Adam Schaff war sicherlich ein bedeutender Theoretiker, man sollte aber nicht vergessen, dass er das, was Sie hier zitieren, vor mehr als fünfzig, wohl bald sechzig Jahren geäußert hat. Und seit Ihnen der Marxismus nahegebracht wurde, ist sicherlich ebenso viel Zeit vergangen. Einiges hat sich in den Jahrzehnten seitdem im Bereich „Marx und die Psyche“ schon getan: 1973 erschien erstmals die deutsche Ausgabe von Lucien Sèves „Marxismus und Theorie der Persönlichkeit“, auch in der Zeitschrift „Das Argument“ hat man sich meines Wissens manches Mal dem Thema gewidmet, und ich bin mir sicher, dass es da noch mehr gab, uns fehlt nur der Überblick. Alles unzureichend? Ich komme noch darauf zu sprechen.

    Ein Zweites, das es zu bedenken gilt: Seit wann gibt es denn die Psychologie als selbständige Wissenschaft überhaupt? Ich hatte vermutet: Seit 1880, 1890 vielleicht … habe dann bei Wikipedia nachgeschaut: Stimmt so etwa, um das Jahr 1900 herum, also erst nach dem Tode von Marx und Engels, hat sie diesen Rang erreicht. Psychologische Forschung hat es allerdings schon vorher gegeben – aber vielleicht waren ihre Ergebnisse für die Arbeit der beiden sog. Klassiker nicht nutzbar. Dass sie in dem Falle selbständig hätten tätig werden sollen, ist wohl etwas zu viel verlangt. Möglicherweise hielten sie es auch nicht für nötig, sich damit zu befassen. Aber hätten nicht andere die Lücken füllen können? Vielleicht – wenn dafür Bedarf bestanden hätte. Anders gesagt: Wofür hätte denn eine marxistisch begründete Individualpsychologie überhaupt von Nutzen sein können?
    Braucht man sie, um zu verstehen, wie die kapitalistische Produktionsweise funktioniert? Wenn ich in der Zeitung lese: „Deutsche Wirtschaft /was schon mal Schwindel ist, gemeint sind die sog. Unternehmer/ … Deutsche Wirtschaft fordert … kritisiert … lehnt ab …“, dann weiß ich schon, worum es geht – letztlich immer um die Sicherung und Mehrung der Profite. Psychologie ist hier nicht vonnöten.
    Oder braucht man sie, um zu verstehen, wie man diese Produktionsweise überwinden könnte? Braucht man sie für die Entwicklung einer Theorie jedweder Revolution? Man könnte es meinen: Auch wenn Revolutionen Massenereignisse sind, muss sich doch jeder Einzelne entscheiden, ob und wie er sich beteiligt, im Unterschied zum Profitmachen ist es keine Pflicht. Doch Marx und Engels, denen es immer um die Revolutionierung der bürgerlichen Gesellschaft ging, haben keine Revolutionstheorie im engeren Sinn erarbeitet. Ich habe das lange Zeit als Versäumnis betrachtet, inzwischen sehe ich es anders. Denn was könnte eine solche Revolutionstheorie bieten? Man kann mit ihrer Hilfe vielleicht analysieren, ob eine Situation revolutionär ist. Aber wer die Verläufe aufmerksam betrachtet, merkt das auch so. Als es im Dezember 1988 massenhaften Protest gegen das „Sputnik“-Verbot gab, war klar: Das alte Regime geht seinem Ende entgegen. Bei anderen Fragen hilft auch die beste Revolutionstheorie nicht weiter. Den Staatsstreich kann man planen, obwohl es auch da Unkalkulierbares gibt, ebenso einen Aufstand, obwohl das schon schwieriger ist, eine Revolution dagegen nicht: Sie ist ein Elementarereignis im Leben einer Gesellschaft und weitgehend vom Spontanen bestimmt. Die Massen, so etwa hatte ich einmal notiert, kommen nur schwer in Bewegung, und wenn sie einmal in Bewegung geraten sind, hat man kaum Einfluss auf deren Richtung.
    Letzter Punkt: Könnte eine solche Psychologie vielleicht hilfreich sein beim Aufbau eines Sozialismus, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht? Zweifellos – aber das hätte dann ein anderer Sozialismus sein müssen als der real existierende. Doch auch in diesem System hat man sich der Psychologie bedient – beteiligt war daran insbesondere das MfS.
    Ich danke Ihnen für die Anregung, zu sagen gäbe es hier natürlich noch erheblich mehr. Herzlich grüßt Sie: Erhard Weinholz.

  6. Lieber Herr Weinholz,
    danke, dass Sie in der Diskussion noch einmal auf meinen Beitrag zurückführen.
    Ich weiß nicht, inwieweit Sie sich meinen Text angeschaut haben.
    Ich denke, ich habe dort mehrfach etwas mitgeteilt, was mir zumindest zum Teil als Antworten auf Ihre Fragen erscheint. Aber es sind lange Antworten, ich kann sie also hier nicht einfach anhängen.
    Nur eine kleine Auswahl zur Frage, wie viel psychologisches Wissen es gab um 1850 – siehe unten.
    Herzliche Grüße
    Andreas Peglau

    Wissenschaftliche Psychologie gab es Mitte des 19. Jahrhunderts erst in Ansätzen. Doch schon seit der Antike war, nicht zuletzt von Philosophen, eine Vielzahl psychologischer Erkenntnisse und Thesen formuliert worden. Außerdem ist Psyche nichts, worüber man erst aus Fachbüchern informiert werden müsste: Jeder hat eine, wir haben ständig damit zu tun. Wer über Menschen urteilt und dabei Psychisches ausklammert, verleugnet selbst erfahrene Realität – oder verdrängt sie. (S. 10)

    Der „Austromarxist“ Max Adler ordnete Max Stirners Gesellschaftskritik 1914 ein als „das psychologische Pendant zur soziologischen von Marx“. Stirner-Forscher Bernd Kast urteilt: „Während Marx und Engels und alle Sozialisten die materiellen Verhältnisse ändern wollen, geht es Stirner um eine Veränderung des Einzelnen.“
    Dabei wandte sich Stirner vehement gegen jede Art von psychischer (De)Formierung und ideologischer Manipulation. Doch Marx und Engels, die ja bislang ebenfalls gegen, insbesondere religiöse, Indoktrination ins Feld gezogen waren, entgegneten nun: Ideologie und Psychisches besitzen überhaupt keine Eigenständigkeit, sie sind keiner genaueren Betrachtung wert, schon diese Betrachtung ist daher bürgerlich-reaktionär!

    Der Psyche war seit der Renaissance gesteigertes wissenschaftliches Interesse entgegengebracht worden. Dafür standen Namen wie Philipp Melanchthon (1497–1560), Baruch de Spinoza (1632–1677), John Locke (1632–1704) oder Denis Diderot (1713–1784).
    Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und Friedrich Fröbel (1772–1852) hatten das Augenmerk auf Kindheit, Erziehung, Schulbildung, damit auf die lebensgeschichtliche Verankerung seelischer Strukturen gelenkt.
    Literarisch vertieft wurde das unter anderem durch Karl Philip Moritz (1756–1793), der 1783 das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde gründete und mit „Anton Reiser“ das Genre des psychologischen Entwicklungsromans schuf. Nicht zuletzt Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) knüpft daran an.
    Der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) nahm mit seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ manch massenpsychologische Erkenntnis vorweg. Arthur Schopenhauer (1788–1860) vertrat ein Menschenbild, das in Teilen dem Sigmund Freuds ähnelte. Der Unternehmer Robert Owen (1771–1858) bewies seit Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur, dass es Alternativen zum Raubtierkapitalismus gab, er verband dies auch mit gründlichen Überlegungen zu Lebensgestaltung, Erziehung, Partnerschaft, schließlich mit kommunistischen Auffassungen.
    Die meisten dieser Männer waren Marx und Engels bekannt, mit einigen von ihnen – wie Kant, Rousseau und Owen – setzten sie sich intensiver auseinander. Goethes Faust-Tragödie, die zumindest im ersten Teil von einer ausgesprochen individuellen Biografie erzählt, war eines der Lieblingsbücher von Marx, aus dem er, auch im Kapital, gern zitierte.
    Vielleicht von Rousseau inspiriert, hielt Marx 1845 in den „Feuerbach-Thesen“ fest: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss.“ Noch Jahre danach hob Engels aus der „Lehre der materialistischen Aufklärer“ hervor, „der Charakter des Menschen“ sei einerseits das Produkt „der angebornen Organisation und andrerseits der den Menschen während seiner Lebenszeit, besonders aber während der Entwicklungsperiode umgebenden Umstände“.
    Doch weder ihn noch Marx scheint interessiert zu haben, woraus die „angeborene Organisation“ besteht, wie sich in der „Entwicklungsperiode“ von Kindheit und Jugend Charaktere herausbilden. Sie meinten, einen Schlüssel in der Hand zu halten, der ohnehin jede Tür öffnete. (S. 16)

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