Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.
(Shakespeare: Hamlet, 2. Akt, 2. Szene)
Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt,
wo sie verkörpert werden – Blickt um euch,
das alles habt ihr gesprochen.
(Georg Büchner: Dantons Tod, 3. Akt, Die Conciergerie)
Wer von „wertebasierter Politik“ spricht, meint derzeit die Noch-Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und deren Grünen-Entourage samt ihrer, die Peinlichkeitsgrenzen immer wieder überschritten habender Ausrutscher auf dem internationalen Parkett. Ja, die Frau war eine Fehlbesetzung. Aber solche Missgriffe sind eine Konstante in der deutschen Politik mindestens seit der Wiedervereinigung und kein Grund, sich sonderlich aufzuregen.
Pieter Breugel d. Ä.: Das Gleichnis von den Blinden (1568). Neues Testament /Matthäus 15,14: „Lasst sie, sie sind blinde Blindenführer. Wenn aber ein Blinder den anderen führt, so fallen sie beide in die Grube.“
Foto: Sammlung W. Brauer
Mit der „wertebasierten Politik“ – dieser Unsinnsbegriff gehört eigentlich an die Spitze der Unwörter des Jahres – lohnt es sich allerdings auseinanderzusetzen. Politik ist immer Interessenvertretung und dient zugleich als Instrument der friedlichen Konsensfindung, wenn Interessen der jeweils beteiligten Konfliktparteien – egal, ob im Inneren oder Äußeren – erheblich divergieren. Alles anderes ist ihre Fortsetzung „mit anderen Mitteln“, um „den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“,wie der sehr rationale Carl von Clausewitz definierte. Auch er hatte mit „wertebasierten Politikern“ zu tun. Die trieben Preußen seinerzeit in die selbstmörderische Auseinandersetzung mit dem napoleonischen Frankreich. Nachdem das – nicht zuletzt dank russischer Säbel und Kanonen – ausgeschaltet war, wurde der „Wertehebel“ umgelegt und man befand sich, noch ehe die demokratischen Patrioten die Jubeltränen aus den Augen reiben konnten, in einer heiligen Werteallianz mit den Mächten des alten Europas.
Das aktuelle selbstmörderische Ideologem einer „wertebasierten Außenpolitik“ ist keine Erfindung von Annalena Baerbock. Im Stillen vorbereitet wurde es bereits im letzten Kabinett Merkel unter Außenminister Heiko Maas (SPD). Im Sommer 2020 veröffentlichte das von ihm geleitete Auswärtige Amt seinerzeit nur wenig beachtete „Leitlinien zum Indo-Pazifik“: „Deutschland muss sich noch stärker mit existenziellen Sicherheitsbelangen seiner bewährten Partner auseinandersetzen, sich an der Formulierung von Antworten beteiligen und konkrete Beiträge leisten – durch Vermittlung von Erfahrung und Expertise, durch eine verantwortungsvolle Rüstungsexportkontrolle, die auch die strategische Qualität der Beziehungen zu den Ländern der Region in Rechnung stellt, durch rüstungskontrollpolitische Initiativen, aber auch durch die Beteiligung an Übungen sowie an kollektiven Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der regelbasierten Ordnung in Umsetzung von Resolutionen der Vereinten Nationen.“
Die „existenziellen Sicherheitsbelange seiner bewährten Partner“ sind natürlich die der Vereinigten Staaten von Amerika. Diese „Leitlinien“ sind de facto nichts anderes als die ritualisierte Wiederholung des traditionellen Lehnseides. Kurze Zeit später wurde dann auch als schlagkräftiges Symbol – so etwas hat schon Wilhelm II. gemacht – eine deutsche Fregatte in den Pazifik geschickt. China (wahlweise sagt man in den deutschen Medien „Xi“ oder „das Regime in P.“) erzitterte. Am Werderschen Markt in Berlin meinte man offenbar, diese Marine-Exkursion wäre ein außenpolitischer Quantensprung, dieser Raum sei schließlich „institutionell und normativ (schwach) durchdrungen“. Wie gesagt, das war bereits 2020!
Wer jedenfalls an „wertebasierte Politik“ glaubt, dem muss die heutige Welt tatsächlich wie ein einziger Irrenstadl vorkommen. Die Amerikaner lassen ihre europäischen Vasallen fallen – und die beschwören tränenreich den Untergang ihrer Wertegemeinschaft. Dass die so nie bestanden hat, wird einfach mal in den Skat gedrückt.
Nicht gesehen wird, dass Donald Trump begriffen hat, dass das eigentliche Konfliktfeld der US-Amerikaner tatsächlich der pazifische Raum ist. Deren strategischer Gegner heißt China. Indien wird in postkolonialer Arroganz vom „Westen“ komplett ignoriert. Aber auch Trump hat nicht das Copyright für diesen Paradigmenwechsel. Das gebührt Barack Obama. Der Friedensnobelpreisträger hat eigentlich die neue globale Gewaltpolitik auf die Schiene gewuchtet. Bislang kamen die US-Amerikaner nur nicht aus den eingefahrenen Geleisen des alten Weltgendarmendenkens heraus. Trump versucht jetzt als erster Nägel mit Köpfen zu machen. Er will sich nicht mit den europäischen Misslichkeiten verzetteln. Wir führen seit den Zeiten Kaiser Karls V. Kriege gegeneinander, ohne dass sich – zumindest geopolitisch gesehen – auf der europäischen Landkarte viel verändert hätte. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sind die Kräfteverhältnisse annähernd gleich geblieben. Die vielen Toten sind umsonst gestorben. Zumal „old Europe“ auch ökonomisch den Anschluss ziemlich verpasst hat.
Die Amerikaner haben auch keine Lust mehr auf das Verbrennen von Subsidien in einem Konfliktgebiet, an dem sich schon die Römer die Zähne ausbissen. Ich meine den Nahen Osten. Donald Trump kann rechnen. Er weiß, dass das Kontobuch des Kaufmanns und die Heilige Schrift auf dem Pult vor dem Hausaltar zwei völlig verschiedene Schuhe sind. Der nüchterne ökonomische Blick macht deutlich, dass die Ressourcen der Vereinigten Staaten nicht unbegrenzt sind. Auch die Daten in einer Unternehmensbilanz sind „Werte“, aber die letztlich entscheidenden.
Man mag das zynisch finden. Vielleicht ist es das auch. Aber die Welt lief noch nie anders. Die im Hintergrund wirklich Herrschenden haben die Ideologen in Krisensituationen immer die Kastanien aus dem Feuer holen lassen. Danach warteten im schlimmsten Fall die Guillotine oder die Keller der Lubjanka auf sie. Napoleon hat dieses Grundgesetz der Politik im November 1799 unübertroffen auf den Punkt gebracht: „Bürger, die Revolution ist auf die Grundsätze gebracht, von denen sie ausgegangen ist; sie ist beendet.“ Von da galten nur noch die materiellen Interessen des Landes, genauer genommen die seiner Oligarchen, als politikbestimmend. Die „Grundsätze“ eben, die zur Revolution führten… Es waren Steuerfragen, die Ludwig XVI. zwangen, die Versammlung der Generalstände einzuberufen. Die Volksmassen, noch immer vom Kater des Rausches vom Juli 1789 benebelt, vermochten ihre Interessen nach dem Sturz der Jakobiner nicht zu definieren, geschweige denn durchzusetzen. Wie immer in der Geschichte. Es waren Steuerfragen, die den englischen König 1640 nötigten, das Parlament einzuberufen. In Geldsachen hört die bürgerliche Gemütlichkeit tatsächlich auf. Auf den Barrikaden sterben die Gavroches und ihre Leute.
Heute ist das nicht anders. Wahlen, mit denen in vergangenen Jahrzehnten in weniger kritischen Zeiten durchaus Politikwechsel eingeleitet wurden, verkommen immer mehr zu einer Art „Deutschland sucht den Superstar“ auf billigstem Level. Das Ergebnis ist überaus beliebig. Der von manchen gern belächelte Reiner Haseloff (CDU-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt), einer der erfahrensten Politiker dieser Republik, hat das im Interview mit der Berliner Zeitung am 26./27. April 2025 trefflich beschrieben: „Das ist das alte Tanzstundenprinzip, dass die Mädels nur mit den Jungs tanzen können, die eben da sind. Und in diesem Krokodilbecken kannn man froh sein, wenn es Leute gibt, die politische Verantwortung übernehmen.“
Nur dass die „Jungs“ und die wenigen „Mädels“ gerade dabei sind, dem Irrsinn eine neue Krone aufzusetzen. Sie opfern sich natürlich auf. Man ahne ja gar nicht, was die oder jene Entscheidung sie gekostet habe, hört man derzeit immer wieder. Den selbst verzapften Irrsinn verpacken sie uns dann als „Faktenzwänge“, „alternativlose Notwendigkeiten“ und ähnlichen verbalen Kunsthonig. Und was die Kosten anbelangt, die man „gemeinsam schultern“ müsse: Die Zeche zahlt in jedem Fall das Volk. Nicht das ganze natürlich. Nur die, die immer schon gezahlt haben, die nicht-vermögende Mehrheit der Gesellschaft.
Um die Verlogenheit solcher Tanzstundeneleven wusste auch Carl von Clausewitz. Nach seinem Einmarsch in Berlin 1806 ließ ihn Napoleon zu sich bringen. Clausewitz komprimiert die herablassenden Phrasen des Siegers von Jena und Auerstedt später in seinen Aufzeichnungen: „Der Sieger ist immer friedliebend, er zöge gerne ruhig in unsere Staaten ein.“ Zumindest Ruhe darf man solchen Leuten nicht gönnen.
„’Aber er hat ja nichts an!‘ sagte endlich ein kleines Kind.“ – Hans Christian Andersens Märchen sind oft sehr politische Texte. „Des Kaisers neue Kleider“ im Besonderen…
Wie erreicht man die Menschen, die auf die Verlogenheit reinfallen und gegen ihre eigenen Interessen wählen, glauben und Ängste haben.
Ja, natürlich sind die Oligarchen und Regierungen die Herrschenden. Aber sie sind gleichzeitig vom sogenannten Volk abhängig. Die Milliarden der Oligarchen werden von Lohnabhängigen und Spekulationen erarbeitet. Die Generäle konnten Schlachten nur führen, weil die Soldaten beider Seiten, im Glauben für … zu kämpfen, bereit waren Unbekannte zu töten, statt mit ihnen zu feiern und zu spielen. Wenn ein Großteil der Menschen sagen und machen würde, mit uns nicht, dann könnte es vernünftiger zu gehen. Aber wie die Massen erreichen, überzeugen und mobilisieren?
Die „Massen“ wahrscheinlich nicht. Aber die Einzelnen schon. Nicht mit dem Zeigefinger und der Mitteilung, dass man die Lösung aller Probleme kennt. Aber mit dem Andersen-Modell „Schau mal, der Kaiser ist nackt …“ schon eher. Und mit der behutsamen Argumentation, dass nichts „alternativlos“ ist. Die erste Bundestagsdrucksache, die ich seinerzeit in die Hand bekam, war der Einigungsvertrag. Auf dem Deckblatt steht – wie bei allen Gesetzesvorlagen von Regierungsparteien üblich -: „Alternativen: keine.“ Damit fängt die Lüge an…