von Wolfgang Brauer
Ein Stück Nachdenklichkeit, ohne billigen Klamauk. Ohne die Erstsemester-Etüden der Schauspielschulen. Das ist selten geworden auf Berliner Bühnen. Das gibt es aber noch, etwas versteckt in einem kleinen Theaterchen unmittelbar gegenüber dem für viele, viele Millionen aufgehübschten Flaggschiff der Berliner Bühnen, der Staatsoper. Das Theater liegt etwas versteckt im hinteren Winkel des inzwischen ziemlich verödeten ehemaligen Preußischen Finanzministeriums. Dessen Eigentümer, das Land Berlin, versucht mit dem neutralen Namen „Palais am Festungsgraben“ die ambivalente Geschichte des Hauses zu kaschieren. Am Liebsten würde der Senat es sich vom Halse schaffen. Das Theaterchen, von dessen jüngster Inszenierung hier die Rede sein soll, ist das Theater im Palais. Abgekürzt nennt es sich ganz gerne TiP, das ist kein Zufall. Sein Vorgänger spielte einst in einem richtigen Palast, dem Palast der Republik. Das ist lange her, aber das TiP gibt es noch. Es ist ganz anders, hat sich tapfer durch die Zeiten geschlagen und erfindet sich immer wieder neu. Ich liebe es, und ich schreibe gern über seine Arbeit.
„Gereiztheiten“. Szenenbild mit Sarah Hostettler. Foto: Theater im Palais (2024)
Aber nun zum Stück mit Nachdenklichkeit und ohne Klamauk. Es stammt von Melanie Schmidli (Buch und Regie) und heißt „Gereiztheiten“. Schon vom Titel her passt es wunderbar in das heutige Berlin. Die gelassene Schnoddrigkeit, die unsere Stadt einmal auszeichnete, die ist nicht mehr. Allenthalben tritt man jemandem auf den Schlips, nein, man verletzt seine Persönlichkeit zutiefst und wartet dann unwillkürlich auf das Erscheinen der Sekundanten, die die „Forderung“ überbringen. Gut, dass das Tragen von Hieb- und Stichwaffen inzwischen verboten ist. Schmidli (die Schauspielerin ist Jahrgang 1982, wurde in Basel geboren und lebt in Berlin) nahm sich die Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit (1894-1982) vor und webte daraus einen kunstvollen Text-Teppich, den Sarah Hostettler mit einem grandiosen Solo-Part, begleitet von Martino Dessi an der Gitarre, präsentiert. Sie versucht erst gar nicht, die Tergit zu mimen – einige wenige O-Töne werden eingespielt –, nach ein paar kleinen Holprigkeiten ist sie ganz sie selbst und findet einen sehr eigenen Ton.
Es ist ein Abend der leisen Töne, auch wenn es bei Gabriele Tergit hart zur Sache geht. Tergit schrieb ihre ersten Gerichtsreportagen 1923 für den Berliner Börsen-Courier, seit 1924 auch für das Berliner Tageblatt Theodor Wolffs und tauchte selbst in der Weltbühne auf. Sie meinte, wenn man die Kriminalprozesse verfolge, würde man das soziale Leben einer Stadt richtig verstehen lernen. Die Tergit wuchs im Friedrichshain auf. Obwohl aus großbürgerlichen Verhältnissen stammend kannte sie daher das Milieu, dessen Sumpfblüten sie im Moabiter Gerichtssaal erlebte. Rauschgifthändler, Diebs- und Raubgesindel, Mörder – aber eben auch die armen Luder, denen aufgrund einer frauenfeindlichen Gesetzgebung nur der Weg zur „Engelmacherin“ oder ähnlichen Pfuschern blieb, um am Ende – wenn alles „gut ging“ – vor ebenso frauenfeindlichen Richtern zu landen. Die „goldenen Zwanziger“ eben, deren zweifelhafter Glanz dann noch gekrönt wurde von den grauenhaften politischen Mordtaten der Nazis, die im Unterschied zu den armen Frauen auf durchaus verständnisvolle Richter trafen. Über all das hat Gabriele Tergit geschrieben – und eine Auswahl dieser Texte präsentieren uns Hostettler und Dessi.
Das Bühnenbild (Klara Rentsch) ist zurückhaltend angelegt und dient hauptsächlich als Reflexionsfläche für Filmsequenzen aus den 1920er Jahren. Natürlich wird Walter Ruttmanns „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (1927) ausführlich zitiert. Das machen alle. Aber die Regie findet hier gerade so das richtige Maß. Schön auch die Chansonauswahl – Hostettler kann singen! –, wobei ich den englischen Schmachtsong als Entrée einigermaßen überflüssig finde. Das TiP sollte solches dem Deutschen Theater und dem benachbarten gorki überlassen. Man muss nicht alles nachmachen. „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ (1930) von Friedrich Hollaender habe ich oft gehört, und das von ganz Großen … Hostettler kann getrost mithalten. Was will man mehr.
Gabriele Tergit musste 1933 aus Berlin fliehen. Sie stand ganz oben auf den Listen der Nazis. Melanie Schmidli lässt die Tergitsche Verwunderung über die Zustände in den deutschen Gerichtssälen nach 1945 wunderbar herausspielen. Nach einer gewissen Abtauchphase machten die Herren – auch die berichtenden Kollegen in Moabit – alle so weiter, als wäre nichts gewesen. Nach dem Freispruch Veit Harlans 1949 vor dem Hamburger Landgericht hat Gabriele Tergit keine Gerichtsreportage mehr geschrieben. Ich denke, sie hatte die Nase voll von dieser verlogenen Bande. Lässt man ihre Texte in der Interpretation von Sarah Hostettler ganz nah an sich herankommen, erscheinen einem die vergangenen Jahrzehnte lediglich als eine Art Zwischenspiel. Da kommt einem manches wieder vertraut vor…
Gereiztheiten. Gabriele Tergits Gerichtsreportagen 1924 bis 1933; Theater im Palais Berlin, 10117 Berlin, Am Festungsgraben 1. Wieder am 7. November, 11. Dezember und 15. Januar.
Sehr geehrter Herr Brauer,
vielen Dank für Ihr positives Echo auf die GEREIZTHEITEN. Ich war dabei für die Visuals verantwortlich. Sie erwähnen die Zitierung des Films „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“. Dieser wird tatsächlich verwendet, allerdings als nur eine unter insgesamt elf verwendeten Bildquellen. Sie stammen großenteils aus dem Bundesarchiv, dem wir für seine Kooperation überaus dankbar sind.
Mit besten Grüßen, Gerald Koll
Sehr geehrter Herr Koll,
vielen Dank für Ihren Kommentar, der mich freut. Tatsächlich erwähne ich nur Ruttmann, weiß aber auch um die anderen verwendeten Werke. Großen Respekt vor Ihrer Arbeit! Sie verstehen sicher, dass eine intensivere Befassung mit dem Thema Visuals den Rahmen meiner kleinen Besprechung gesprengt hätte. Ich habe den „Abspann“ aufmerksam zur Kenntnis genommen. Dass ich gerade „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ herausgepickt habe, hat mit dem stilbildenden Charakter des Films zu tun. Natürlich schätze ich die Filmemacher, die aus der Bauhaustradition kommen, oder auch die Filme Phil Jutzis und Slatan Dudows. Bitte haben Sie Verständnis.
Herzliche Grüße
Wolfgang Brauer
Das mit dem „Vorgänger“ des TiP im Palast der Republik stimmt zwar, doch das „Theater im Palais“ gab es auch schon lange vor dem Zusammenbruch – hauptsächlich als Probebühne für TiP und zuweilen das Gorki-Theater, aber eben auch als Spielstätte der „kleinen Form“ im damaligen „Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“. Allerdings, so ich meine Erinnerung nicht verlässt, im ersten Stock und nicht im Parterre. Ich selbst stand da mit Kommilitonen gelegentlich auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“.
Danke für die Erinnerung! Das Haus war tatsächlich seinerzeit ein lebendiger Ort. Aber wir müssen uns über die Begriffe einigen. Unter Theater verstehe ich das Institut, nicht die Spielstätte. Es war also ein „Theater im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“. Vom „Palais“ sprach damals keiner… Es war übrigens derselbe Theatersaal. Ich erwähne die Geschichte in meinem Porträt der langjährigen Intendantin Gabriele Streichhahn:
https://das-blaettchen.de/2022/06/vom-einmaligen-erlebnis-des-spielens-62107.html