Helene Weigel gehört zu den großen Ausnahmeschauspielerinnen des Welttheaters des 20. Jahrhunderts.
Wolfgang Pintzka gab diesen Band mit Texten Bertolt Brechts und Fotos Gerda Goedharts 1959 im Henschelverlag Berlin heraus. Immer noch eines der schönsten Bücher über die Weigel, wie ich finde. (Sammlung W. Brauer)
Geboren wurde sie als zweite Tochter des „Correspondenten“ Siegfried Weigl und seiner Ehefrau Leopoldine, geborene Pollak, am 12. Mai 1900 in der Wiener Hessgasse 7e. 1913 zog die Familie in die Berggasse 30. Die Eltern waren jüdische Einwanderer aus Mähren. Die Großeltern betrieben in Auspitz (Hustopeče) eine kleine Textilfabrik. Der Vater schaffte es bis zum Direktor einer Wiener Textilfirma. Aufgrund dieses Aufstiegs musste die Mutter ihr kleines Spielwarengeschäft aufgeben. Leopoldine Weigl starb 1927 an einer Hirnembolie. Auch die Schwester Stella wurde nicht alt, sie starb 1934 an Tbc. Übrigens lebte Brechts und Paula („Bi“) Banholzers Sohn Frank (1919-1943) Anfang der 1930er Jahre einige Zeit bei ihr. Frank Banholzer fiel als Obergefreiter der Wehrmacht an der Ostfront.
Prägend für Helene wurde ihre Schulzeit. Das waren weniger die mäßigen Leistungen als vielmehr der nachhaltige Einfluss, den die Atmosphäre der von Eugenie Schwarzwald (1872-1940) betriebenen Reformschule ausübte, die das Kind nach Abschluss der Volksschule besuchte. Schwarzwald gehört zu den Modernisiererinnen des europäischen Schulwesens. Sie förderte nachdrücklich die Koedukation, beschäftigte an ihrer Schule die erste Garde der Wiener Moderne. Oskar Kokoschka arbeitete hier als Zeichenlehrer, Arnold Schönberg gab eine Zeitlang Kompositionsunterricht und Adolf Loos gab Architekturlehre. Nicht zuletzt war Eugenia Schwarzwald eine bedeutende Frauenrechtlerin. Befreundet war sie mit der dänischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Karin Michaëlis (1872-1950). Michaëlis verbrachte jedes Jahr längere Zeit bei der Freundin in Wien und erfuhr von ihr von einer völlig unbegabten, aber mit ihrer Gier zur Bühne absolut nervenden Schülerin namens Helene Weigel. Michaëlis war auch mit dem Direktor der Wiener Volksbühne, Arthur Rundt (1881-1939), befreundet und vermittelte im Dezember 1917 ein Vorsprechen. Statt der offenbar von den beiden begleitenden Frauen erwarteten pädagogisch heilsamen Katastrophe reagierte Rundt beinahe sprachlos: „Der Direktor sagte – und seine Worte klangen beschämt: ‚Ihnen rate ich nicht ab, zur Bühne zu gehen.‘ Und er fügte hinzu: ‚Unterricht brauchen Sie nicht zu nehmen!’“ So berichtete Karin Michaëlis, offenbar überwältigt von diesem Ausbruch schauspielerischen Ur-Talentes, wenige Tage später über „Die Geburt des Genies“ in der Weihnachtsausgabe der Vossischen Zeitung.
Michaëlis wird für Helene Weigel und Bertolt Brecht (1898-1956) noch einmal im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig werden: Sie ermöglicht es den beiden, nach der Flucht aus Deutschland in Dänemark Fuß zu fassen. Vermittelt wird der Kontakt dann aber von der österreichisch-jüdischen Schriftstellerin Maria Lazar (1895-1948), einer Schwester der Kinderbuchautorin Auguste Lazar (1887-1970). Auguste Lazar, die in Dresden mit dem Ehepaar Klemperer gut befreundet war, war eine Zeitlang Lehrerin von Helene Weigel in Wien. Ein Aufenthalt auf Thurø rettet auch Eugenie Schwarzwald das Leben. Sie weilt in den Tagen des „Anschlusses“ Österreichs bei der Freundin und geht von dort aus in das schweizerische Exil. Viele ihrer Schülerinnen und Kolleginnen hingegen überleben die Shoah nicht.
Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken. Band 1 (2021)
Bereits im Mai 1919 hat Helene Weigel jedenfalls ihren ersten Theatervertrag in Frankfurt a. Main und spielt im Neuen Theater die Marie in „Woyzeck“. Im Juni 1922 ist sie in Berlin und hat ein Engagement am Staatlichen Schauspielhaus durch Leopold Jessner in der Tasche. Im selben Jahr noch probt sie unter Otto Falckenberg (1873-1947) am Deutschen Theater Bertolt Brechts „Trommeln in der Nacht“. Den Dichter lernt sie im August 1923 über dessen Freund Arnolt Bronnen kennen. Zu diesem Zeitpunkt ist der noch mit der Opernsängerin Marianne Zoff (1893-1984) verheiratet. Beider Tochter Hanne (Hiob) wird am 12. März 1923 geboren. Am 3. November 1924 kommt Stefan, der Sohn Brechts und der Weigel, unehelich zur Welt. Die Mutter lässt Stefan unter dem Namen Weigel bei der Jüdischen Gemeinde registrieren. Allerdings erklärt sie am 26. April 1928 vor dem Amtsgericht Berlin für sich und den Sohn Stefan den Austritt aus der Gemeinde. Am 10. April 1929, Brecht ist seit dem 22. November 1927 geschieden, heiraten Weigel und Brecht. Die Tochter Barbara wird am 28. Oktober 1930 geboren.
In den 1920er-Jahren spielt Weigel die verschiedensten Rollen, probiert sich aus, versucht auch im Film und im noch jungen Rundfunk einen Platz zu finden. Zu „der“ Weigel wird sie allerdings durch Brecht: Im Dezember 1932 übernimmt sie die Rolle der Pelagea Wlassowa in „Die Mutter“ nach Maxim Gorki. Geplant war das zumindest von Brechts Seite nicht. „Es stellte sich erst bei den Proben heraus, daß ich mit der Rolle etwas anfangen konnte“, erklärt sie fast 40 Jahre später im Gespräch ihrem Biografen Werner Hecht. Die Besetzung war ein Wagnis. Sie war erst 32 Jahre alt und wechselte – mit durchschlagendem Erfolg – das „Fach“: „… vom Charakterfach ins Mütterfach zu kommen, ist fast kein Weg im Theater“, sagt sie Jahrzehnte später rückblickend. Die Inszenierung wird ein Riesenerfolg. Es heißt, daß allein 15.000 Arbeiterfrauen in Berlin das Stück gesehen haben sollen. Die rechte Presse verreißt sie natürlich („allerrotestes Parteitheater) und der Kritikerpapst Alfred Kerr nennt das Drama „Idiotenstück“ eines „primitiven Autors“. Helene Weigel hingegen sei „einfach herrlich“.
Band 2 (2022) / Band 3 (2023)
Nur, am 30. Januar 1933 wird Hitler Reichskanzler. Mit Theater und dem Vortragen der von Eisler kongenial vertonten „Wiegenlieder einer Arbeitermutter“ auf Arbeiterbühnen war dem nicht mehr beizukommen. Am 28. Februar 1933 flüchten Brecht und seine Frau förmlich in letzter Minute nach Prag. Die Kinder werden ihnen auf abenteuerlichen Wegen nachgeschickt. Helene Weigel findet ein Unterkommen bei Karin Michaëlis in Dänemark, Brecht fährt derweil nach Paris, um mit Kurt Weill am Ballett „Die sieben Todsünden“ zu arbeiten und die Tauglichkeit der Stadt als Exilort zu prüfen. Allerdings kaufen beide noch im August 1933 in Svendborg, Skovsbostrand 8, ein Fischerhaus. Hier bleiben sie bis April 1939. Dann setzt die große Flucht Richtung Amerika ein – mit längeren Zwischenstationen in Schweden und Finnland.
1934 begannen Brecht und seine Mitarbeiterin Margarethe Steffin (1908-1941) – die kommunistische Arbeiterschauspielerin aus Berlin gelangte quasi über eine Nebenrolle in „Die Mutter“ in die „Brecht-Familie“ – mit der Materialsammlung zur Szenenfolge „Furcht und Elend des Dritten Reiches“. Szene 9, „Die jüdische Frau“, ist einer der wenigen Texte, in denen sich Brecht mit der jüdischen Problematik unmittelbar auseinandersetzt. Irritiert hatte ihn schon 1933 das Verhalten seiner exilierten jüdischen Schriftstellerkollegen. Am 28. September 1933 schreibt er an Weigel aus Sanary-sur-Mer: „In Paris entsetzte mich Döblin, indem er einen Judenstaat proklamierte, mit eigener Scholle, von Wallstreet gekauft. In Sorge um ihre Söhne klammern sich jetzt alle (auch Zweig hier) an die Terrainspekulation Zion. So hat Hitler nicht nur die Deutschen, sondern auch die Juden faschisiert.“ In der Szene bereitet die Judith Keith, Ehefrau eines „arischen“ Oberarztes ihre Abreise nach Amsterdam vor. Sie will ihrem Mann den Posten retten und seine gesellschaftliche Ächtung beenden. Der Szene selbst ist ein Motto vorangestellt: „Und dort sehen wir jene kommen / Denen er ihre Weiber genommen / Jetzt werden sie arisch gepaart. / Da hilft kein Fluchen und Klagen / Sie sind aus der Art geschlagen / Er schlägt sie zurück in die Art.“
Vereinfacht gesagt verkündet der Autor hier das komplette Scheitern der Assimilation. „Er“ (Hitler) macht den sich zuvörderst als Deutsche Verstehenden – ob jüdischen Glaubens oder nicht – klar, dass sie Juden sind. Basta. Weigel wird am 21. Mai 1938 bei der Uraufführung des Stücks – Slatan Dudow (1903-1963) inszeniert es in Paris unter dem Titel „99%“ – die Partie der Judith Keith übernehmen. Ihr großer Monolog wirkt wie die dramatische Umsetzung des Brecht-Briefes vom 28. September 1933:
Vorige Woche hast du ganz objektiv gefunden, der Prozentsatz der jüdischen Wissenschaftler sei gar nicht so groß. Mit der Objektivität fängt es immer an, und warum sagst du mir jetzt fortwährend, ich sei nie so nationalistisch jüdisch gewesen wie jetzt. Natürlich bin ich das. Oh Fritz, was ist mit uns geschehen! Vor zehn Jahren, als jemand meinte, das sieht man nicht, daß ich eine Jüdin bin, sagtest du schnell: doch, das sieht man. Und das freut einen. Das war Klarheit.
Im Frühjahr 1935 ist Brecht in Moskau. Er sucht nach Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten. Und er versucht, Helene Weigel eine Filmrolle zu verschaffen und berichtet ihr Ende März 1935 von seinen Bemühungen: „Jetzt aber sehe ich in meinem wilden Kampf um eine Filmrolle für Dich zwar nur eine alte Frau, aber in einem Dimitroff-Film (unter der Regie von Ivens, Manuskript leider Wangenheim) und in deutscher Sprache. Die Rolle soll besonders schön sein.Vielleicht willst Dus nicht machen, aber ich will, daß sie Dir angeboten wird.“ Es handelte sich um die Rolle der „Mutter Lemke“ im 1935/1936 von der Meschrabpom, der Film-Sparte der KPD-nahen Internationalen Arbeiterhilfe (IAH), produzierten Film „Kämpfer“. Brecht irrte allerdings: Regie führte offiziell der 1933 über Paris ins sowjetische Exil geflohene Schauspieler Gustav von Wangenheim (1895-1975). Joris Ivens (1898-1989) fungierte als „Mitarbeiter“.
„Kämpfer“ besteht de facto aus zwei Erzählsträngen: einem vermeintlich dokumentarischen, der den Leipziger Reichstagsbrandprozeß nachstellt, und einem fiktiven, der den Arbeiterwiderstand gegen die Nazis darzustellen versucht. Die Rolle Georgi Dimitroffs „spielte“ Dimitroff selbst. Im Zentrum der fiktiven Geschichte steht Mutter Lemke, die veranlasst durch die Ermordung ihres Sohnes Hans, in den aktiven Widerstand geht – das ist das Muster der Pelagea Wlassowa und später der Teresa Carrar. Die Rolle schien der Weigel auf den Leib geschrieben. Allerdings muss von Wangenheim gespürt zu haben, dass er mit der sein geliebtes Pathos nicht bekommen wird. Er besetzt die Mutter Lemke mit Lotte Loebinger. Ende April 1935 muss Brecht klar geworden sein, dass aus seinem Plan nichts wird: „Die Fotos wollte ich, weil eine (vage) Aussicht auf eine Filmrolle bei Ivens bestand; da jedoch Wangenheim das Manuskript schrieb, wird nichts daraus werden. Er benimmt sich saumäßig und unvergeßlich.“
Wangenheim besetzte natürlich seine Favoriten. Die Rolle der Anna, neben Mutter Lemke die Leitfigur der Widerstandskämpfer, spielte die junge Ingeborg Framke. Sie war mit von Wangenheim verheiratet. Fritz Lemke, Ehemann der Mutter Lemke, verkörperte Bruno Schmidtsdorf, ein Mitglied der „Kolonne Links“, einer 1927/1928 in Berlin gegründeten Agitprop-Truppe. Schmidtsdorf wurde am 28. Februar 1938 in Butowo erschossen. Er teilte dieses Schicksal mit etlichen anderen Mitwirkenden des Films, die in die Fänge des NKWD geraten waren. Das Studio selbst ließ Stalin 1936 im Zusammenhang mit der Auflösung der IAH schließen. Auch „Kämpfer“ landete in der Versenkung.
Brecht konnte damals nicht wissen, dass die Ablehnung der Weigel durch Gustav von Wangenheim seiner Frau (und ihm?) möglicherweise das Leben rettete. Der stalinistische Verfolgungswahn betrachtete die IAH als einen Hort antisowjetischer Spionage. Man sollte nicht vergessen, dass sich diese Geschehnisse im zeitlichen Umfeld des 1. Moskauer Prozesses vom 19. bis zum 24. August 1936 gegen das „trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum“ Grigori Sinowjews und Lew Kamenews abspielten. Alle 16 Angeklagten wurden noch am 25. August erschossen. Dem üblichen Spionagevorwurf fiel 1937 Brechts Moskauer Freund Sergej M. Tretjakow zum Opfer, als vermeintlicher Spion wurde 1940 der ihm nahe stehende Theatermann Wsewolod E. Meyerhold umgebracht.
Im September 1936, kurz nach dem 1. Moskauer Prozeß, gingen auch die deutschen kommunistischen Exilschriftsteller an die „Säuberung“ ihrer Reihen. Vom 4. bis zum 8. September fand zu diesem Zweck eine geschlossene Parteiversammlung der deutschen Sektion des sowjetischen Schriftstellerverbandes statt. Das Protokoll der Versammlung ist das einer an Erbärmlichkeit kaum zu toppenden Denunziationsveranstaltung. Man muss allerdings immer im Auge behalten: Da kämpfte mancher wissend gegen das, was ihm – oder der Ehefrau, wie im Falle Johannes R. Bechers – bevorstehen könnte.
Am letzten Tag kam auch der Streit um die Besetzungsliste von „Kämpfer“ zur Sprache. Gustav von Wangenheim wurde von Hugo Huppert (1902-1982) aufgrund der schon vorgenommenen Verhaftungen aus den Kreisen der Schauspieler, mit denen er arbeitete, in die Enge getrieben. Er berichtete: „Brecht hat dafür sorgen wollen, daß Helene Weigel diese Frau [Mutter Lemke] spielt. […] Jetzt wurde ich im Zusammenhang mit dieser Geschichte von Genossen Piscator angerufen, wie ich zur Besetzung der Rolle mit Helene Weigel stünde. Ich antwortete, Kandidat hat jeder zu sein, der ein antifaschistischer Künstler ist. Es kommen verschiedene in Frage, selbstverständlich auch Weigel. […]. Da ich in der Frage mißtrauisch war, sprach ich am Telefon befangen. An der anderen Seite fragte Piscator: Du meinst, daß sie zu jüdisch ist? Ich sagte, das kann sein. Aus dieser Geschichte ist eine teuflische Geschichte von Brecht gemacht worden, indem er erklärte, Juden dürfen in Moskau nicht spielen.“ Soweit war es noch nicht, aber eine antisemitische Grundierung kennzeichnet diese Debatten schon.
Eine offen politische Denunziation unternahm Julius Hay (1900-1975) – 1956 gehört er dann zu den Wortführern des ungarischen Aufstandes und muss wieder ins Exil – nach dem Gestammel von Wangenheims: „Dann war ich in Wien. Der erste Mensch, den ich da getroffen habe, war Brecht. Diese Tendenzen, diese Stimmungen, […] habe ich in diesem Brecht-Kreis auch feststellen können, also es war miesester Defaitismus und Liquidatorentum, und ich muß festellen, daß nicht nur der parteilose Brecht, sondern die Parteigenossin Helene Weigel diesen Stimmungen vollkommen unterlag.“ Die Auseinandersetzungen um das zeitgenössische Theater – in der Sowjetunion konkret Meyerhold versus Stanislawski – hatten eine politische Dimension. Brechts Theatermodell galt als westlich-dekadent. Zudem galten Weigel und er politisch als unsichere Kantonisten.Brecht und Weigel schätzten die Lage in Hitlers Deutschland und die KPD-Politik einfach anders ein als die stalinhörige Parteiführung.
Auch Erwin Piscator (1893-1966) hatte für die Meschrabpom gearbeitet. 1934 drehte er nach der Novelle von Anna Seghers mit „Der Aufstand der Fischer“ einen der großen Filme des deutschen antifaschistischen Exils. Seit September 1935 versuchte er in Engels, der Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik, das Deutsche Staatstheater auszubauen. Natürlich mit Unterstützung Brechts und mit Helene Weigel als Star im Ensemble. „Die Sache mit Engels macht sich“, schrieb er am 3. Juli 1936 an Weigel nach Svendborg. Aber da wabern bereits Trotzkismus-Vorwürfe in der Luft, am 25. Juli wurde Carola Neher (1900-1942) verhaftet. Zudem erwies sich Engels, aus dem Picator ein „zweites Weimar“ machen wollte, als hoffnungslos modernefeindliches Kaff. Ein Vierteljahr später, Piscator hält sich in Paris auf, rät ihm Wilhelm Pieck dringend davon ab, in die Sowjetunion zurückzukehren.
Helene Weigel steht noch ein einziges Mal vor der Kamera, in den USA. In Fred Zinnemanns „Das siebte Kreuz“ (1944) nach dem Roman von Anna Seghers spielt sie eine kleine – stumme! – Rolle. Ein von Fritz Lang zugesichertes Mitwirken bei „Hangmen Also Die!“ (1943) kam nicht zustande. Der Film über das Attentat auf Reinhard Heydrich war Brechts einziges realisiertes Hollywood-Projekt.
Ich schrieb diesen Text für Band 4 (2024) der von Ricardo Altieri, Bernd Hüttner und Florian Weis für die Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebenen Schriftenreihe. Für die Publikation musste ich aus Platzgründen kürzen. Das hier ist der vollständige Text.
Helene Weigel ist in den Exiljahren als Schauspielerin weitgehend kaltgestellt. Lediglich in einigen Aufführungen von „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, als Teresa Carrar („Die Gewehre der Frau Carrar“, 1937) und dem erwähnten kleinen Filmauftritt kann sie in all den Jahren in ihrem Beruf arbeiten. „Ich war und bin noch immer eine brauchbare Person, und der Winterschlaf dauert zu lange“, schreibt sie am 18. Januar 1937 an Erwin Piscator. Der „Winterschlaf“ sollte erst am 15. Februar 1948 zu Ende sein. Da hebt sich der Vorhang des Stadttheaters Chur in der Schweiz zur Premiere von Brechts Bearbeitung „Die Antigone des Sophokles“. Helene Weigel gibt die Antigone. Ihre Situation als Pelagea Wlassowa – die junge Schauspierin spielte 1932 eine alte Frau – hat sich jetzt umgekehrt. Der von Brecht und ihr auch als „Probe, ob es denn noch ginge“ verstandene Auftritt wird von der Weigel glänzend bewältigt. Sie ist wieder „da“.
Allerdings zahlte Helene Weigel schauspielerisch in ihrem Leben einen großen Preis: „Alle großen Frauengestalten, die Brecht geschaffen hatte, waren ihr versagt geblieben. Keine Grusche, keine Shen Te“, schreibt Gisela May 1976 in ihrem Erinnerungsbuch „Mit meinen Augen“. Die Weigel war festgelegt auf die Mutterrollen: eben die Pelagea Wlassowa, ihre Theatergeschichte gemacht habende „Mutter Courage“, Teresa Carrar und die Bäuerin Martha Flinz („Frau Flinz“ von Helmut Baierl, 1961), quasi dem realsozialistischen Gegenstück zur Courage. Zu antiker Größe geriet ihre Volumnia in der „Coriolan“-Inszenierung von Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert (1965).
Dem Geheimnis dieser Jahrhundertschauspielerin ist schwer auf die Spur zu kommen. Der beste Kenner ihrer Kunst, Bertolt Brecht, hat das immer wieder versucht. Beim Nachdenken über „Die Requisiten der Weigel“ (1951) kommt er diesem Geheimnis sehr nahe. Sie spiele
[…] Mit den Augen der Wissenden
Und den Händen der brotbackenden, netzestrickenden
Suppenkochenden Kennerin
Der Wirklichkeit.
Ihre größten Leistungen nach Brechts Tod fasst ihre Biografin Sabine Kebir in einem einzigen Satz zusammen: „Die Brecht-Edition im Westen durchsetzen, im Osten wenigstens anzuschieben und gleichzeitig das Berliner Ensemble zu erhalten, war ein Drahtseilakt, der außerordentliche Kräfte verschlang.“
Und das Jüdische? Vom Tod des Vaters erfuhr Helene Weigel erst nach dem Krieg. Seine Spuren verlieren sich 1942 im Ghetto Litzmannstadt. Er hatte es abgelehnt zu fliehen. Sie selbst wird bei einem Besuch des Warschauer Ghettos angepöbelt, sie muss in ihrem eigenen Haus antisemitische Schmierereien erleben. Die Tochter Barbara Brecht-Schall (1930-2015) schriebt in einem Brief im Juni 2006 an Anita Wünschmann: „Heli hat ihr Judentum weder verleugnet noch hervorgehoben.“ Egal kann es ihr nicht gewesen sein.
Am 6. Mai 1971 tritt Helene Weigel endgültig von der großen Bühne ab. Noch am 3. April hatte sie im Rahmen eines Gastspiels des Berliner Ensembles anlässlich des 100. Jahrestages der Pariser Commune im Théâtre des Amandiers in Nanterre die Pelagea Wlassowa gespielt.
Nachbemerkung:
Von den bisherigen vier Bänden der Buchreihe (ein fünfter Band ist in Vorbereitung) sind Band 1 und 2 vergriffen. Band 3 und 4 sind bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung bestellbar. Alle vier Bände sind aber komplett im pdf-Format über die Homepage der Stiftung abrufbar.
Literatur:
Gisela May: Helene Weigel, in: (dies.): Mit meinen Augen. Begegnungen und Impressionen, Berlin 1976, S. 75-84.
Werner Hecht: Helene Weigel. Eine große Frau des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2000.
Sabine Kebir: Helene Weigel. Abstieg in den Ruhm. Eine Biographie, Berlin 2002.
Anita Wünschmann: Helene Weigel. Wiener Jüdin – Große Mimin des epischen Theaters, Berlin 2006.
Erdmut Wizisla (Hrsg.): „ich lerne: gläser + tassen spülen“. Bertolt Brecht. Helene Weigel. Briefe 1923-1956, Berlin 2012.