(Clara Zetkin an Wilhelm Pieck, 27. August 1924)
Zusammengestellt und kommentiert von Jörn Schütrumpf
Den Mangel an Legitimität, der jeder Diktatur anhaftet, wurde in der Sowjetunion und in den von ihr beherrschten Staaten durch »Säulenheilige« ausgeglichen; zumindest wurde es versucht. Neues zu erfinden, war dazu nicht nötig Denn wie das geht, hatte über Jahrhunderte die katholische Kirche vorgebetet – wenngleich deren Heldenfiguren nicht unbedingt gelebt haben mussten. Anders im Sowjetblock: Dessen vermeintliche Legitimationsspender waren tatsächlich auf Erden gewandelt.
Allerdings bestand keiner für die zugedachte Aufgabe die Eignungsprüfungen – schlichtweg, weil Heilige der Märchenwelt entlehnt sind. Deshalb erhielt jeder einen für die jeweilige Person extra zusammengebastelten Schminktisch: die Alkoholiker Goethe, Schiller, Marx und Engels ebenso wie die der Demokratieaffinität überführte Rosa Luxemburg. Für die wurde sogar ein eigener »Luxemburgismus« erfunden – der nur den kleinen Fehler aufwies, mit ihrem Denken nichts zu tun haben. Trotzdem spukt dieser Unfug bis heute herum.
Bei Rosa Luxemburgs Freundin Clara Zetkin – sie machte sich mehr als Politikerin denn als Theoretikerin einen Namen – war es einfacher: Ihre gesamte Korrespondenz wurde schlichtweg gesperrt und an die Wände eine Figur projiziert, die mit ihr nur den Namen gemein hatte. Hier folgend einige Lesefrüchte, die eine Frau zeigen, die in ihren letzten Lebensjahren vor allem ihre Würde verteidigte und dafür einen nicht geringen Preis zahlte: den – nach außen hochgeehrt – in Isolation zu leben.
Gerhard Thieme: Clara Zetkin (1983). Foto: W. Brauer/2006
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»Ich schicke Dir diesen Brief in Maschinenschrift, damit sich der mich kontrollierende Spitzel nicht die Augen mit meiner schlechten Handschrift verdirbt und vielleicht aus Rache dafür den Brief länger zurückbehält.«
An Jelena Stassowa, 8. April 1924
»Auch in dieser Beziehung ist die Sowjetunion das riesenhafte geschichtliche Experimentierfeld des Weltproletariats für die Durchführung des Kommunismus.«
An Nadeschda Krupskaja, Maria und Anna Uljanowa, 15. März 1931
»Die Führer der KPP[olens] gehören zu den theoretisch geschultesten Kommunisten, sie haben eine lange und vielseitige Praxis, auch in der illegalen Arbeit.« [2.000 führende polnische Kommunisten, als Emigranten in der Sowjetunion lebend, wurden 1937 ermordet; ihre Partei, die Partei Rosa Luxemburgs, wurde als »faschistische Partei« aufgelöst – J.Sch.]
An Hertha Sturm, 9. Februar 1924
»Die Polen stehen in jeder Hinsicht dem Westen näher als die meisten Russen.«
An Wilhelm Pieck, 9. Februar 1924
Lenin »schimpfte heftig über ›diese Genossinnen, die keine Ahnung von Politik haben‹, zumal aber Hertha Sturm und Alexandra Kollontai. Ich verteidigte sie, da rief er sehr lebhaft: ›Sie altes, großes Kind. Sie dürfen nicht so gutmütig sein, das taugt nicht im Umgang mit eitlen Weibern und Strebern. Schminken Sie sich ein anderes Gesicht an wie die schöne Alexandra. Sie wird Sie von vorn küssen und wird Ihnen von rückwärts ein Messer in den Körper stecken. Und Ihre dürre Hertha Sturm ist nichts als eine pedantische deutsche Oberlehrerin, dazu noch eine Streberin.‹«
An Jelena Stassowa, 13. Februar 1924
»Ich grüble über die beste Form, in der ich aktiv eingreifen könnte, und dachte schon daran, mich durch Austritt aus der führenden Parteiinstanz mit den Herausgeworfenen zu solidarisieren, meinen Rücktritt in einer Erklärung zu begründen durch die Darlegung meiner Auffassung und dann ein positives Arbeitsprogramm zu entwickeln. Da ich aber Lenin seinerzeit mit Handschlag versprochen habe, nie wieder so etwas zu tun, ohne mit ihm und anderen russ[ischen] Freunden Rücksprache genommen zu haben, will ich mich erst beraten.«
An Jelena Stassowa, 23. Februar 1924
»… daß jede Tagesfrage scharf und klar von unserem Standpunkt aus beleuchtet wird. Sonst wird aus der Schulungsarbeit nichts als Weibergeschwätz, verbrämt mit etwas Funktionärsformelkram. Wir ziehen damit nicht Führerinnen heran, sondern bestenfalls ›Funktionärinnen‹, die wie ein Tier auf dürrer Heide herumirren, wenn sie sich dem Leben außerhalb ihres Kreises gegenüber finden.«
An Hertha Sturm, 23. Februar 1924
»Ganz frei von diesem Unfug ist G[enossin] Krupskaja [Lenins Frau]. Sie sagte mir nämlich, es sei falsch, was Kam[enew] und Sin[owjew] behaupteten, daß Lenin nie Trotzki getraut habe. Umgekehrt: Lenin habe Tr[otzki] bis zum letzten Tage geliebt und geschätzt. Sie habe das nach seinem Tode auch Tr[otzki] geschrieben.«
An Jelena Stassowa, 29. März 1924
»Es ist der Ausdruck gemeiner Spitzelei, der meine Korrespondenz ausgesetzt ist, und die ich unter keinen Umständen ertragen werde.«
An Jelena Stassowa, 8. April 1924
»Ganz besonders regt mich der Gedanke auf, ich könnte in meinen persönlichen Briefen an Dich ein unbedachtes, rasches Wort geschrieben, einen dummen Witz gemacht, einen tollen Gedanken ausgesprochen haben, wie dies meine Art ist, und das könnte Dir angekreidet werden. Ich fürchte mich ja nicht zu verantworten, was ich sage und tue […] Dagegen ist mir die Vorstellung schmerzlichst, Freunde könnten meinetwegen Ungelegenheiten haben und leiden.«
An Jelena Stassowa, 8. April 1924
»Diesen Brief schicke ich auf dem von Dir angegebenen Wege, hoffentlich erreicht er Dich. Das Walten der Berliner ›Poststelle‹ ist auf gut deutsch gesagt: eine Nichtswürdigkeit.«
An Jelena Stassowa, 19. April 1924
»Der ganze Betrag für das Vierteljahr darf den Genossinnen nicht mit einem Male übergeben werden, sie können nicht wirtschaften und leben in dem Wahne, daß sie von hier unendlich weiter erhalten könnten.«
An Jelena Stassowa, 19. April 1924
»Es gibt eine Stufe der Gemeinheit, Niedertracht und Dummheit, gegen die ich nicht kämpfen kann und will, denn ich müßte dann auf das gleiche Niveau herabsteigen in den Schmutz.«
An Jelena Stassowa, 30. April 1924
Schon bald wurde sie vorsichtiger:
»Wenn ja, so bitte ich Dich dringend, mir die Adresse zu schreiben, an die ich meine Briefe zu pünktlicher Weiterbeförderung schicken kann.«
An Jelena Stassowa, 10. Mai 1924
Über Nadeschda Krupskaja:
»Sie war gestern zwei Stunden bei mir und gab mir viel Anregung und Ruhe. Wir verstehen uns gut, merkwürdig gut, politisch und menschlich.«
An Jelena Stassowa, 10. Mai 1924
»Die Kom[munistische] Intern[ationale] muß ihren alten Zauber für die Massen wiedergewinnen, aber ihre Politik in den einzelnen Sektionen entfernt die Massen. Es wäre sehr viel darüber zu sagen, doch Schluß.«
An Jelena Stassowa, 27. August 1924
»Allein ich sehe daneben jene im eigenen Lager, die mich in den letzten Jahren beschimpft, verleumdet, verdächtigt haben und – was schlimmer ist – mich in die Ecke pufften, die Wirkungsmöglichkeiten für mich, so viel es nur anging, beschränkten oder wenigstens von theoretisch unreifem, politisch unehrlichem Pack wie Fischer-Maslow und tutti quanti beschränken ließen, und die nun das Maul aufreißen, um mich zu preisen. Wenn den Sozialdemokraten und Bürgerlichen mein 70. Geburtstag Anlaß geben wird, mich zu schmähen, so ›spucke ich darauf‹, wie es russisch heißt. Jedoch ich ekle mich bis zum Erbrechen vor der konventionellen Heuchelei derer, mit denen ich in Kampfesgemeinschaft verbunden bin.«
An Wilhelm Pieck, 21. Juni 1927
»Ich will leben, das heißt, so leben, daß es mir lebenswert erscheint. Du weißt, was ich damit meine.«
An Wilhelm Pieck, 20. August 1927
»Die KPD – das wurde ebenso widerspruchslos zugegeben – hat seit dem Essener Parteitag [2.-7. März 1927] keinen Zuwachs an Mitgliedern und Lesern ihrer Presse erfahren, beides ist stationär geblieben, ja in manchen Bezirken zurückgegangen. Die Auflage der ›Roten Fahne‹ beträgt 72.000, obgleich es an starker und fortgesetzter Reklame dafür nicht fehlt. Die KPD hat nicht einmal die Führung in den Lohnkämpfen, die dank ihrer Initiative entstanden sind. Nebenbei: Die bürgerliche Presse spiegelt ab, daß die KPD nicht mit den Massen verbunden ist. Sie behandelt die Partei als Quantite negligeable, um die man sich nicht zu kümmern braucht. Bei den Verhandlungen des Plenums traten nur zwei Genossen mit der Ansicht hervor, daß dieser Stand der Dinge sich lediglich aus den objektiven Schwierigkeiten erkläre, und daß Fehler und Mängel der Partei keine Schuld daran trügen, der ewige Jungbursche Willi Münzenberg und der Jugendvertreter [Conrad] Blenkle, den ich bereits in der Sitzung des Polbüros als noch sehr unklar und unreif kennengelernt hatte. Ihre Stellungnahme – ganz besonders und öffentlich jene Willis – war inspiriert von dem Drang, sich ›radikal‹, ›links‹ zu geben und zu diesem Zweck gegen Gerhart [Eisler] und Karl Becker zu polemisieren. Die beiden ›Linkischen‹ fanden jedoch keine Gelegenheit im Plenum. Bei allen Punkten der Tagesordnung hoben die Referenten und Debatte[n]redner Schwächen und Mängel der Partei hervor und gaben Anregungen, was und wie zu bessern sei. Es wurde dabei stark betont: die Notwendigkeit klarer durchgreifender gründlicher Schulung, der Erfüllung der Tageskämpfe mit der kommunistischen Ideologie; Konzentration aller Kräfte auf der Linie der Partei, mit endlicher Überwindung der fraktionellen Reminiszenzen; kollektive Zusammenarbeit und Führung des ZK; Politisierung des RFB; gründliche theoretische und praktische Schulung der Gewerkschaftsredakteure usw., usw. Sie werden ja ein Stenogramm der Verhandlungen und Beschlüsse erhalten. Ob es ganz getreu sein wird, ist eine andere Frage. Das Bedeutsamste der Verhandlungen schien mir, daß sich in dem Auftreten der Vertreter der Bezirke frisches vorwärtsdrängendes gesundes Leben in den Parteimassen offenbart. Diese beginnen, Kritik zu üben und von der Führung scharfe Selbstkritik zu fordern. Sie erkennen, daß der Partei das Vertrauen der werktätigen Massen zu der Politik und der Führung der Kommunisten fehlt. Sie selbst haben kein Vertrauen zu dieser Politik und dieser Führung. Und die Z[entrale]? Sie ist ebenfalls ohne Vertrauen zu sich, zu ihrer Führung, ihrer Politik. Sie ist unklar, unsicher, schwankend, ratlos, pendelt hin und her zwischen Möchte-gern und Kann-doch-nicht. Sie ist von Cliquentreibereien zersetzt und vergiftet und empfindet das Unhaltbare ihrer Position nach innen und außen. Der Grund dazu ist, daß es den meisten Mitgliedern der Z[entrale] fehlt an Kenntnissen – zumal auch über die Geschichte der Arbeiterbewegung –, an theoretischer Schulung, an politischen Fähigkeiten und politischem Instinkt, an Talenten der Darstellung und Überzeugungskraft und last not least: an Charakterfestigkeit. Allein je mehr diese Mängel an dem einzelnen vorhanden sind, um so unerschütterlicher ist sein [Ernst Thälmanns] Glauben, daß er der ›Deutsche Lenin‹ sei. Er versucht seine Überlegenheit dadurch zu beweisen, daß er seine Nebenmänner in der Z[entrale] möglichst viel Dummheiten machen läßt, ja sie zu solchen provoziert. Ein wirklich kollektives Zusammenarbeiten gibt es nicht, kein Ausgleichen und Überwinden der Fehler und Schwächen der einzelnen, dafür Herausbildung kleiner Cliquen, persönliches Intrigieren, Gegeneinanderarbeiten. Die fraktionellen Reminiszenzen der Gegensätze von ›links‹ und ›rechts‹ sind nur noch welke Feigenblätter, nicht lebendige Kräfte. Verhängnisvoll macht sich dabei geltend, daß Teddy kenntnislos und theoretisch ungeschult ist, in kritiklose Selbsttäuschung und Selbstverblendung hineingesteigert wurde, die an Größenwahnsinn grenzt und der Selbstbeherrschung ermangelt. Er läßt daher seine guten proletarischen politischen Instinkte und Urteile über Menschen und Zustände täuschen und irreleiten durch Ohrenbläser, Schmeichler, Klatschbasen, Intriganten niedrigster Art. Maslow wurde durch Neumann abgelöst, an dessen Stelle scheinen nun Dengel, Schneller, Münzenberg getreten zu sein. Es wird dabei auf Teddys Ängste spekuliert, daß irgendjemand ›linker« als er sein könne und daß ›Rechte‹ ihm als ›Linkesten‹ die Führung entreißen wollen. Abgesehen von einigen Genossen in der Z[entrale] spielt zumal Maslow auf dieser Saite – und mit Erfolg. So wankt Teddy hin und her zwischen Anfällen einer richtigen Einschätzung der Lage und ihrer Konsequenzen und Anfällen tobender Abwehr dagegen und kann sich in Widerspruch zu sich selbst jeden Tag anders einstellen.«
An Nikolai Bucharin, 11. September 1927 (»Drecksbrief«)
»Fritz [Heckert] kann nicht Leiter der Gewerkschaftsarbeit sein, wenn aus dieser mehr als ein bloßer Bluff werden soll.«
An Nikolai Bucharin, 11. September 1927 (»Drecksbrief«)
»… daß im übrigen aber der beste Teil der Partei weiß, daß [Paul] Levi mit seiner Kritik an der Märzaktion [1921] zu 90 % recht hatte.«
Jacob Walcher an Clara Zetkin, 13. April 1928
»Oder mit noch deutlicheren Worten: Der gewaltige SPD-Erfolg [bei den Reichstagswahlen 1928 – J. Sch.] beweist, wie viel bei uns durch unsere vielfach so hundsdumme Führung verpatzt worden ist.«
Eduard Fuchs an Nikolai Bucharin, 25. Mai 1928
»Die Partei ist überbürokratisiert. Wir haben die bürokratische Entartung noch vor der Machtergreifung, was viel schlimmer ist. Die Mitgliedschaft ist gelähmt, gleichzeitig wird sie mechanisch in Bewegung gesetzt, mit dem Feldwebelstock in Gehorsam gehalten. Niemand kann wagen, einen selbständigen Vorschlag zu machen oder einen kritischen Gedanken zu äußern, ohne daß sofort eine Hetze von seiten der Bürokratie gegen ihn beginnt. Diese Bürokratie ist tief korrumpiert, z. T. materiell, z. T. ideell.
Über den Grund ihrer Korrumpierung mag Ihnen Aufschluß geben, was mir ein alter Genosse, der noch aus dem Spartakusbund stammt und der in der Lage ist, die Dinge genau zu beobachten, sagte. Er sagte, im Falle eines Krieges würde 76 % des Parteiapparates teils weglaufen, teils zur Bourgeoisie überlaufen. Ich sprach darüber mit einer Reihe anderer Genossen, und diese Prognose wurde mir mehr oder weniger allgemein bestätigt.
[…] Nach all dem, was ich gesehen und gehört habe, bin ich fest davon überzeugt, daß wenn die Partei vor eine revolutionäre Probe gestellt wird, sei es durch einen Krieg, sei es durch eine soziale Krise, die aus irgendwelchen anderen Ursachen entstehen mag, so wird der Funktionärsapparat der Partei z[um] größten Teil zusammenbrechen.«
August Thalheimer an Clara Zetkin, 29. Juni 1928
»Sind der deutsche Oktober 1923, Bulgarien, Estland, die Komintern-Führung in der chinesischen Revolution, ist die theoretische Sterilität der Komintern, ihre Unfähigkeit, den Parteien bei der Anwendung der kommunistischen Prinzipien auf die Politik ihrer Länder zu helfen – sind das alles Zufälligkeiten?
Ich bin heute wie seit je der Ansicht, daß die historische Mission der Komintern noch keineswegs beendigt ist, aber daß sie nicht erfüllt werden kann, wenn nicht gebrochen wird mit dem System, das die kommunistischen Parteien dauernd im Zustand der Unmündigkeit und Unreife erhält. Eine Kette ist nur stark, wenn ihre Glieder stark sind. Wenn so und so viele Dummköpfe oder faule Köpfe, die den gegenwärtigen Zustand gedanken- und kritiklos hinnehmen, jetzt (größtenteils wider besseres Wissen) brüllen, wir wollten zurück zur zweiten Internationale, so brauche ich Ihnen kaum zu beweisen, daß es sich in Wahrheit um einen notwendigen, längst herangereiften Schritt vorwärts zu einer höheren Etappe der Komintern handelt. Darum geht es. Und Sie, die die Hemmnisse, die dem entgegenstehen, so gut kennen wie irgendeiner von uns, begreifen auch die äußerlich paradoxe Lage, daß diese höhere Etappe zunächst gegen unsere russischen Genossen durchgefochten und erkämpft sein will. Die Voraussetzungen dafür müssen zuerst in der Peripherie, in den einzelnen Sektionen geschaffen werden.«
August Thalheimer an Clara Zetkin, 23. November 1928
»Wie gern würde ich sterben, um Ruhe zu haben, aber ich bin durch vielerlei Pflichten an das Leben gebunden und habe nicht das Recht, dessen Tor hinter mir zuzuschlagen und zu sagen: ›Gute Nacht! Ich will schlafen.‹ Das ist leicht für mich, das Leben sehr, sehr schwer.«
An Hanna Zetkin-Buchheim, 26. Januar 1929
»Die Genossen freuen sich, daß auch Sie den politischen Standpunkt der Opposition vertreten. In vielen Orten wurde mir gesagt: ›Hoffentlich kommt Clara bald nach Deutschland, damit sie bei uns sprechen kann.‹ Ich schreibe Ihnen das deswegen, weil das Vertrauen zu den offiziellen Instanzen der Partei gleich Null ist, während die Arbeiter großes Vertrauen in Sie setzen.«
Hans Tittel an Clara Zetkin, 6. Februar 1929
»Es sind vor allem die steten, aufwühlenden, zerreißenden inneren Konflikte in dieser Zeit des Gärens und Werdens einer neuen sozialen Welt, geboren aus der uralten Frage: Was ist Wahrheit, was ist Pflicht?
Und diese inneren Konflikte und Kämpfe sind für mich noch nicht zu Ende. Nicht, daß ich im unklaren über meine Einstellung zu den Ereignissen und den dabei in das Licht der Geschichte tretenden Menschen wäre. Darüber habe ich mir persönlich durch aufmerksames Beobachten und gewissenhaftes Durchleuchten des Geschehens als alte Marxistin und. Revolutionärin ein Urteil gebildet. Aber die schwere Frage ist, wie lange ich in der Öffentlichkeit aus politischen Gründen, in Hinblick auf das Interesse der proletarischen Revolution schweigen muß.«
An Elisabeth Mayer, 14. September 1929
»Die Wirklichkeit ist, daß ich mich innerlich verblute, zerrissen, aufgefressen durch die Sorgen, Kümmernisse, durch die Empörung über die Entwicklung der KPD und der Komintern. […] Die Entwicklung ist katastrophal. Die ›Linie‹ vernichtet alles, was Marxens Theorie gelehrt, was Lenins Praxis als geschichtlich richtig erwiesen hat. […] Es ist zum Heulen. Wie die Partei in ihrem jetzigen Zustand, mit ihrer ›Linie‹ leerer revolutionärer Phrasen und Gesten und unter ihrer total unfähigen Führung eine Periode der Illegalität überstehen soll, ist eine Rätselfrage. […] Das Auftreten der Parteileitung ist derart, daß manche Leute den Eindruck erhalten, sie wolle die Illegalität, um sich noch mehr als durch die Cliquenwirtschaft der Kontrolle zu entziehen und ihre subjektive Unfähigkeit mit dem Schleier des objektiv Unmöglichen gegenüber der Gewalt zu verhüllen und sich mit dem Nimbus revolutionärer Romantik zu umgeben. […] Die ›Linienpolitik‹ vertut in unverantwortlicher Weise das Kapital an Sympathie und Interesse für die S[owjet-]U[nion], das diese unter den werktätigen Massen besaß. Diese machen die KI und die Sowjetmacht für alle Narrheiten und Verbrechen der Parteiführung verantwortlich.
[…] Ich bitte Sie dringend um Angabe einer sicheren Adresse, durch die ich es Ihnen zur Weitergabe zustellen kann. Meine Verbindung mit Euch geht ausschließlich durch den offiziellen Apparat des ZK der KPD, und in ihm gibt es absolut niemanden, dem ich vertraue.«
An Ossip Pjatnitzki, 22. Januar 1930
»… die Ungewißheit meiner jetzigen Position …«
An Hanna Zetkin-Buchheim, 27. März 1930
»Als sie [Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin, Wien-Berlin 1929 – J.Sch.] endlich erscheinen durften, hat die deutsche Parteipresse sie konsequent totgeschwiegen. Offenbar aus dem Bedürfnis heraus, darzutun, daß sie wenigstens in einer Sache konsequent sein könne.«
An Frida Rubiner, 17. Juli 1930
»Geschichtlich gesehen ist die SPD nicht nur die verräterischste, sondern obendrein die politisch unklügste, dümmste aller Parteien. Sie zerstört die Grundlagen ihrer Macht, ihrer Existenzberechtigung, indem sie Klasseninteressen des Proletariats preisgibt. […] Ein Teil der früheren sozialdemokratischen Wähler lief zu den Faschisten über, ein anderer Teil sank in den politischen Indifferentismus zurück.«
An Nadeschda Krupskaja, Maria und Anna Uljanowa, 15. März 1931
»Ach Liebste, was Ihr in München erlebt, ist unser aller Schicksal, wo immer wir heute wohnen. Inmitten Scharen an uns Vorübergehender, ja mit uns Vorwärtsgehender sind wir allein, einsam und empfinden das schmerzlich in den Momenten, wo wir in Selbstbestimmung Verständnis, Mitgefühl für unser innerstes persönliches Wesen verlangen.
Auch unter den Kommunisten muß man ›Menschen‹ suchen, d. h. echte, wahre Kommunisten, bei denen das Ideal kein starres, totes Dogma für den sozialen Kampf ist, vielmehr die Persönlichkeit gestaltende lebendige Kraft, »neue soziale Menschen«, die die neue Gesellschaft mit ihren neuen Lebensformen zu schaffen vermögen. Natürlich wissen wir in der Theorie ganz gut, welche Schranken die bürgerliche Gesellschaft und diese Übergangszeit dem Aufblühen des neuen Menschentums setzen. Aber in der Praxis vergessen wir nur zu oft, daß stete Wechselwirkung zwischen uns und den sozialen Dingen besteht, und daß wir nicht lediglich passiv Duldende, sondern auch aktiv Gestaltende des sozialen Lebens um uns sind. Und so bleiben viel zu viele unter uns hinter dem Maße zurück, daß wir erreichen könnten.«
An Elisabeth Mayer, 14. Mai 1931
»Parteigymnastische Übungen sind nicht Massenaktionen.«
An Hertha Sturm, 26. Juli 1931
»Als Sinowjew sich auf der Höhe seines Einflusses befand, wurden einer Sitzung des EKKI Thesen vorgelegt, die die Luxemburgsche ›Spontanitätstheorie‹ brandmarkten. Ich machte dagegen geltend, daß Rosa nie in der ihr unterschobenen Form eine Theorie der Massen-Spontanität vertreten habe. Das mußte schließlich zugegeben werden. Die Ablehnung der Theorie kam dann dem Sinne nach in der Fassung zustande, daß manche Anhänger R[osa] L[uxemburg]s zu Unrecht unter Berufung auf sie die Spontanitätstheorie aufgestellt hatten.«
An Maria Reese, 27. Dezember 1932
»Die Situation ist derart entwickelt, daß sie Revolution und Gegenrevolution in ihrem Schoße trägt.«
An Maria Reese, 1. November 1931
Gerhard Thiemes „Clara Zetkin“ wurde 1986 wurde vor dem Institut für Lehrerbildung (IfL) in Berlin-Hohenschönhausen aufgestellt. Seit 1999 befindet es sich im Clara-Zetkin-Park (Marzahn-NordWest). Am Standort des IfL steht heute ein Multiplex-Kino. Foto: W. Brauer/2006
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Die Briefpartner:
Bucharin, Bucharin, Nikokai Iwanowitsch (1888–1938): russ. und sowjet. Revolutionär und Politiker, führender Funktionär der Bolschewiki, 1938 ermordet; Fuchs, Eduard (1870–1940): Historiker, Franz-Mehring-Herausgeber, Freund August Thalheimers; Krupskaja, Nadeschda Konstantinowna (1869–1939): russ. und sowjet. Revolutionärin und Politikerin, Ehefrau Lenins, nach dessen Tod von Stalin kaltgestellt; Mayer, Elisabeth (geb. Wolff): Frau des Münchener Neurologen Wilhelm Mayer, 1935 Emigration in die USA; Pjatnitzki, Ossip Aronowitsch (1888-1938), russ. und sowjet. Revolutionär und Politiker, 1938 ermordet; Reese, Maria (1889–1958): KPD-Reichstagsabgeordnete, Kritikerin des stalinistischen Kurses, trat 1933 aus der KPD aus und lief zu den Nationalsozialisten über; Rubiner, Frida Abramova (1879–1952): Mitbegründerin der KPD, Ehefrau von Ludwig Rubiner; Stassowa, Jelena Dmitrijewna (1873–1966): russ. und sowjet. Revolutionärin und Politikerin, Vertraute Zetkins; Sturm, Hertha (1886-1943): eigentl. Edith Schumann, KPD-Funktionärin und Widerstandskämpferin, Mitarbeiterin Zetkins; Thalheimer, August (1887–1948): Mitbegründer der KPD, Gegner Stalins, 1928/29 Mitbegründer der Kommunistischen Partei-Opposition 1928/29; Tittel, Hans (1894-1983): KPD-Politiker, 1938 aus der Partei ausgeschlossen; Uljanowa, Maria Iljitschna (1878–1939) und Anna Iljitschna (1864-1935): Lenins Schwestern; Walcher, Jacob (1887–1970): Mitbegründer der KPD, Gewerkschafter, 1951 vom SED-Politbüro zum »ärgsten Feind der Arbeiterklasse« erklärt; Zetkin-Buchheim, Hanna (Maria Johanna): Zetkins Mitarbeiterin, ab 1919 erste Ehefrau von Maxim Zetkin, dem ältesten Sohn der Zetkin, der gemeinsame Sohn Wolfgang (geb. 1922) fiel als Wehrmachtssoldat in der Sowjetunion.
(W.B.)
Eine interessante – und auch recht deprimierende – Auswahl von Briefen!
Jörn Schütrumpf geht in seiner Einleitung jedoch nicht darauf ein, dass die Verfasserin in einer Tradition stand, die „Diktatur“ durchaus als legitim und sogar als notwendige Phase der Entwicklung begriff.
Karl Marx bezeichnete diese 1875 als „Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“ [45]
Lenin machte daraus die „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.“ [69]
Er sprach auch von der „Organisierung der Avantgarde der Unterdrückten zur herrschenden Klasse zwecks Niederhaltung der Unterdrücker“ [79] – also letzten Endes von der Diktatur seiner Partei.
Trotzki wiederum hatte frühzeitig davor gewarnt, dass Lenins Vorstellungen zu einer „Diktatur über das Proletariat“ [64] führen könnten – um dann 1917 deren Errichtung anzuführen.
Rosa Luxemburg kritisierte diese Entwicklung entschieden – das war sicher ein Hauptgrund für ihre von J.S. beschriebene Verketzerung.
Ich kann mich auf diese Andeutungen beschränken, da ich das Thema bereits ausführlich in meinem Buch „Das Rezept des Dr. Marx. Norderstedt 2010“ behandelt habe.
Alle Zitate sind dieser Publikation entnommen; zur Orientierung habe ich die jeweiligen Seitenzahlen in eckigen Klammern angegeben.
Das Buch ist im Buchhandel und über Anbieter im Internet erhältlich.