Zenzl und Erich Mühsam – Eine Doppelbiografie

„Tatsächlich ist Erich Mühsams Wirken ohne die Frau an seiner Seite nicht zu denken.“ Für Rita Steininger war diese Einschätzung Schreibanregung zu einer bemerkenswerten Doppelbiografie über Zenzl (Kreszentia) und Erich Mühsam, die kürzlich im Bremer Donat Verlag erschienen ist. Mit leichtem Erstaunen stellt die Autorin in der Einleitung fest, dass ihr Buch die erste Abhandlung sei, „die sich dem Ehepaar Mühsam gemeinsam widmet“.

Ich teile dieses Erstaunen und gestehe gern, dass mich Steiningers Buch von der ersten bis zur letzten Seite nicht losgelassen hat. Die Autorin verfügt nicht nur über eine profunde Sachkunde, sie kann auch auf fesselnde Weise schreiben. Das geht nicht immer zusammen. Gerade in solchen Fällen wie der Biografie Erich Mühsams, die einem eigentlich vertraut erscheint, besteht immer die Gefahr eines leicht gelangweilten schnellen Umblätterns… Hier ist das nicht der Fall.

Natürlich werden die großen Umbrüche der Mühsamschen Biografie mit der gebotenen Gründlichkeit beschrieben: sein Weg vom Lübecker Apothekergesellen zu einer der schillerndsten Persönlichkeiten der Berliner und Münchener Anarchisten- und Poetenszene der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg; sein verzweifelter Kampf gegen den Irrsinn des Krieges – immer noch recht allein auf weiter Flur, aber seit 1913 schon mit Zenzl an seiner Seite: „Ich leide sehr unter der Unmöglichkeit, mein Verlangen, für den Frieden zu wirken, in die Tat umzusetzen“, schreibt Mühsam am 23. Juni 1915 in sein Tagebuch.

Es war geradezu zwingend, dass Erich Mühsam – seit der Schulzeit und dem späteren jugendlichen Abgang aus dem Apothekenwesen hatte er sowieso ein distanziertes Verhältnis zur Obrigkeit – aus den Erfahrungen seiner Antikriegsarbeit in einen tiefen Gegensatz zum bürgerlichen Staat gerät. Beim Nachdenken über sein spannungsvolles Verhältnis zu Kurt Eisner bringt er das am 20. November 1919 in einem Brief an Catharina Karreman-de Haan – Eisner war bereits am 21. Februar ermordet worden – auf den Punkt: „Er hielt es mit Kerenski, ich von Anfang an mit Lenin.“ Anders gesagt: Kurt Eisner meinte, die Grundstrukturen einer bürgerlich-parlamentarischen Republik mit Elementen des Rätesystems vereinen zu können. Erich Mühsam dagegen setzte konsequent auf ein Rätesystem, in dem die Arbeiterschaft, das Proletariat, das Sagen haben sollte. Wohlgemerkt: die Arbeiter und keine Partei, die sich anmaßt, in deren Namen nicht nur zu sprechen, sondern auch in selbst erteilter Stellvertreterrolle die Macht ausüben zu wollen.

Damit geriet er natürlich in heftigen Gegensatz zunächst zur USPD, auch zu deren linkem Flügel, dem Spartakus-Bund, und spätestens ab Mitte der 1920er-Jahre zur KPD, deren Unterwerfungskurs unter das Stalinsche Diktat er strikt ablehnt. Zenzl musste das im sowjetischen Exil im GULAG ausbaden. Aber 1918 war noch alles offen.

Rita Steininger lässt uns miterleben, wie Erich Mühsam zu Beginn jenes Jahres ohne großes eigenes Zutun in das Zentrum der revolutionären Bewegung in der bayerischen Hauptstadt geriet. Es waren die Arbeiter, die ihn riefen, nicht Eisner – der an der Spitze des Münchener Januarstreiks gegen den Krieg stand –: „Erich, sprich du in der Fabrik für den Streik!“ Mühsam sprach und geriet noch stärker in das Visier der Staatsmacht. Martin Andersen-Nexö, der große dänische Erzähler („Ditte Menschenkind“, „Pelle der Eroberer“), war in jenen Wochen bei den Mühsams in München zu Besuch. Er registrierte die Gefährdungen, denen Zenzl und Erich ausgesetzt waren, weist aber auch auf die Grenzen der Mühsamschen Weltsicht hin: „Wie die Zukunft aussehen müsse, damit sie allen ein menschliches Dasein böte, wusste Erich Mühsam nicht; in revolutionärer Politik war er ein Kind.“

Nicht nur er, möchte man fast aus der altklugen Sicht des Generationen später Geborenen einwerfen. Das klingt lächerlich, aber in so manch linkem Geschichtsdiskurs schwingt heute der leise Vorwurf mit, man hätte das mit den Revolutionen zwischen 1917 und 1919 doch besser sein lassen sollen. Sixtus Beckmesser lässt grüßen… Ja, deren Protagonisten, geprägt durch das Erleben des großen Menschenschlachthauses, waren der Meinung, man müsse jede Gelegenheit nutzen, um dem blutigen circulus vitiosus der Geschichte ein Ende zu bereiten. Viele bezahlten diesen Traum mit dem eigenen Leben. Wer glaubt, sich darüber erheben zu dürfen…

Die Abschnitte über die Geschichte der Novemberrevolution im Königreich Bayern, genauer gesagt in dessen Hauptstadt, die ersten Wochen des Freistaates Bayern und die Erzählung der tragischen Geschichte der nachfolgenden Räterepublik gehören für mich zu den spannendsten Abschnitten des Buches. Die am 7. April 1919 ausgerufene „Räterepublik Baiern“ – ihre Gründer griffen bewusst auf die bis 1825 übliche Schreibweise des Ländernamens zurück – wird von beiden Mühsams förmlich herbeigesehnt. Erich Mühsam schlägt die Warnungen des KPD-Abgesandten Eugen Leviné in den Wind, der unter dem Schock der blutigen Erfahrungen allein zweier gescheiterter Aufstände im ersten Quartal 1919 in Berlin – die Niederschlagung der Bremer Räterepublik und eines Aufstandsversuches in Halle/Saale kommen hinzu – davor warnt, ein Rätesystem quasi vom „grünen Tisch“ zu dekretieren.

Auch Zenzl Mühsam pflegt hier Illusionen. Rita Steiniger zitiert sie nach Andersen-Nexös Erinnerungen: „Wenn die weißen Garden Preußens es wagen sollten, bei uns Ordnung zu schaffen, dann wird der letzte Bergbauer mit einer Mistgabel gegen diese Horden freiwillig kämpfen.“ Hinsichtlich des „letzten Bergbauern“ irrte sich die junge Frau aus der Hallertau – Zenzl stammt aus dem bayerischen Hopfenland – gründlich. Der über Jahrhunderte gehegte und gepflegte Antisemitismus im Voralpenland erwies sich gerade in den Jahren des deutschen Bürgerkriegs als so stark, dass diese Karte von den Rechten – egal, um welche Partei oder Vereinigung es sich handelte – nur gezogen werden musste, um eine Wirkungsmacht zu entfalten, die erst in den Gaskammern von Treblinka und Auschwitz enden sollte.

Erich Mühsam selbst wurde in München am 13. April 1919 während des sogenannten „Palmsonntagsputsches“ der republikanischen Schutztruppe verhaftet – Ernst Toller und Gustav Landauer entgingen dem rein zufällig – und blieb auch nach der Niederschlagung dieses konterrevolutionären Aufstandsversuches im Zuchthaus Ebrach weggesperrt. Die Räteregierung hatte hier keine Zugriffsmöglichkeiten. Mühsam rettet dieser fatale Umstand wahrscheinlich das Leben. Nach der blutigen Niederschlagung der zweiten Räterepublik verurteilte ihn am 12. Juli 1919 das Standgericht München zu 15 Jahren Festungshaft.

Erich und Kreszentia Mühsam 1924. Foto: Erich-Mühsam-Gesellschaft Lübeck (mit freundlicher Genehmigung der Erich-Mühsam-Gesellschaft)

Zenzl Mühsam widmet dem Kampf um die Freilassung ihres Mannes – und die vieler anderer politischer Gefangener! – , zumindest um die ihm als „Festungsgefangenen“ gesetzlich zustehenden Hafterleichterungen und eine seinem fürchterlichen Gesundheitszustand entsprechende ärztliche Behandlung alle Kraft. Die Autorin zitiert Mühsams Tagebucheintrag vom 4. September 1924: „Ich wollte, ich könnte ihr doch noch einmal zeigen, dass ich ihr dankbar bin. Vergelten läßt sich ja so viel Liebe und so viel Opfer nie im Leben.“

Am 20. Dezember 1924 wird Erich Mühsam aufgrund einer Amnestie aus der Festungshaft entlassen. Am selben Tag kommt auch Adolf Hitler frei. Ein seinerzeit politisch gewolltes Paradoxon.

In den folgenden Jahren – Mühsam lebt seit seiner Freilassung mit Zenzl in Berlin – kämpft er an mehreren Fronten zugleich. Er setzt sich – auch im Rahmen der „Roten Hilfe“ – für die politischen Gefangenen aus der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik ein. Die „Rote Hilfe“ erwies sich für ihn allerdings zunehmend nicht mehr als die überparteiliche Organisation, für die er einst eintrat. Und: sie schweigt zu den politischen Verfolgungen in der Sowjetunion. Erich Mühsam verlässt 1929 die Organisation. Wegen seiner Mitarbeit in der „Roten Hilfe“ schloss ihn übrigens 1925 die Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands (FKAD) aus. Mühsam engagiert sich dennoch leidenschaftlich in der anarchistischen Bewegung und versucht, mit seiner Schrift „Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat“ (1932) ihr ein politisches Leitbild zu geben.

Dass er mit seinen Überzeugungen mehr und mehr in eine Frontstellung zur sich zunehmend als stalinhörig erweisenden KPD-Spitze gerät, zeichnete sich allerdings schon Mitte der 1920er-Jahre ab. Rita Steininger zitiert einen Tagebuch-Eintrag Mühsams vom 1. Dezember 1925, in dem er ein Gespräch mit Anatolij W. Lunatscharski festhält. Er habe dem sowjetischen Volkskommissar gesagt: „Das schlimmste Hemmnis für die Einigung der revolutionären Arbeiterschaft ist die Verfolgung der Anarchisten und andern linken Revolutionäre in Russland.“ In Moskau hat man sich so etwas gemerkt…

Genau diese Einigung der Arbeiterschaft sehen Zenzl und er als das einzige Mittel gegen den Ende der 1920er immer stärker werdenden Faschismus in Deutschland: „Die Arbeiter haben jetzt anderes zu tun als sich gegenseitig zu beschimpfen und zu verprügeln oder schöne Reden anzuhören und wohlklingende Resolutionen zu fassen. Es ist Zeit, höchste Zeit zu handeln!“ Seine zahlreichen Appelle werden bei den Linken zumeist überhört.

Wer sie ernst nimmt, das sind die Nazis selbst. Sie erkennen in Erich Mühsam einen ihrer gefährlichsten Gegner. Die NSDAP-Spitze macht ihre Schlägerhorden gegen ihn scharf, indem sie ihn als den Hauptverantwortlichen der Geiselerschießung vom 30. April 1919 im Münchener Luitpoldgymnasium hinstellt. Dass Mühsam an jenem Tag bereits zwei Wochen in Ebrach festsaß, war den Nazi-Propagandisten egal. Fortan war er in ihrem Sprachgebrauch der „Geisel-Mörder“. Mühsam wusste um die damit verbundenen Gefahren für sein Leben. Er wusste, die Nazis meinen es ernst, weigert sich dennoch lange Zeit, Deutschland zu verlassen. Für den 28. Februar 1933 hat er dann endlich die Fahrkarte für den Zug nach Prag in der Tasche. Am Abend zuvor brennt der Reichstag. Um fünf Uhr morgens steht die Polizei an der Haustür der Mühsams. Der Rest ist bekannt.

Weniger bekannt ist das verzweifelte Ringen Zenzl Mühsams um das Leben ihres Mannes. Sie wendet sich selbst an die KZ-Kommandanten. Am 8. Juli 1933 gelingt es ihr mit etlichen anderen Frauen, den SS-Leuten im KZ Oranienburg eine Sprecherlaubnis mit ihrem Mann abzutrotzen. Am Abend des folgenden Tages wird Erich Mühsam wahrscheinlich im Verwaltungsgebäude des Lagers ermordet.

Am Tag der Beisetzung ihres Mannes gelingt es Zenzl Mühsam, illegal die Grenze zur Tschechoslowakischen Republik zu überschreiten. Steininger schildert minutiös ihre Bemühungen um die Rettung des Werkes Mühsams. Zenzl lässt sich im August 1935 schließlich, von diversen Versprechungen – auch Wilhelm Piecks! – „überzeugt“, auf eine Übersiedlung nach Moskau ein. Hier ist man offenbar heftig an den sich in ihrer Hand befindlichen Manuskripten Erich Mühsams interessiert. Nicht zuletzt, meint Steininger, um Belastungsmaterial gegen „unliebsame Parteigenossen“ zum Beispiel im Briefwechsel zu finden.

In der Nacht vom 22. zum 23. April 1936 wird Zenzl Mühsam wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“ verhaftet. 1939 zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt, kommt sie erst am 16. November 1946 wieder frei. Erst am 27. Juni 1955 trifft sie – schwer krank – in Ost-Berlin ein.

Nicht nur die sowjetischen Behörden, auch die SED-Führung hatte kein sonderliches Interesse daran, dass die Witwe Erich Mühsams wieder nach Deutschland kommt. Auch die DDR fasst sie nur mit spitzen Fingern an. Sie erfährt diverse materielle Wohltaten, erhält eine schöne Wohnung in der Pankower Binzstraße 17 und diverse Auszeichnungen. Die Rechte am Werk ihres Mannes werden ihr allerdings eine Woche vor ihrem eigenen Tod zugunsten der Akademie der Künste abgeluchst.

Berlin-Pankow. Binzstraße 17 / Gedenktafel für Zenzl Mühsam. Foto: W. Brauer (2019)

Rita Steiningers Buch hinterließ bei mir nach erfolgter Lektüre einen bitteren Nachgeschmack. Ich bin dem Donat Verlag dankbar, dass er den Band in seiner Reihe „Geschichte & Frieden“ veröffentlicht hat.

Rita Steininger: Weil ich den Menschen spüre, den ich suche. Zenzl und Erich Mühsam, Donat Verlag, Bremen 2024, 264 Seiten, 19,80 Euro.

Mehr zu Mühsam auf der Seite der Erich-Mühsam-Gesellschaft e.V. Lübeck:
https://erich-muehsam.de/

STREIT UND KAMPF

von Erich Mühsam

Nicht nötig ist´s, nach Schritt und Takt
gehorsam vorwärts zu marschieren.
Doch wenn der Hahn der Flinte knackt,
dann miteinander zugepackt
und nicht den Nebenmann verlieren!

Schlagt zwanzig Freiheitstheorien
euch gegenseitig um die Ohren
und singt nach hundert Melodien –
doch gilt es in den Kampf zu ziehen,
dann sei der gleiche Eid geschworen!

Aktionsprogramm, Parteistatut,
Richtlinien und Verhaltenslehren –
schöpft nur aus allen Quellen Mut!
Ein jedes Kampfsystem ist gut,
das nicht versagt vor den Gewehren!

Darum solang kein Feind euch droht,
verschont einander nicht mit Glossen.
Doch weckt euch einst der Ruf der Not,
dann weh das einige Banner rot
voran den einigen Genossen!

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