„Waren Sie schon immer so?“ – Von den Fragen nach dem Urgrund des Lebens. Neues vom Theater in Berlin

Die weit verbreitete Meinung von Menschen meiner Generation, die der ganz jungen wäre die einer moralisch verrotteten Bande, die bildungsfern und spaßversessen nur an das schnelle Geld und ihre „Work-Life-Balance“ – mit deutlichem Übergewicht des Zweiten – denke, ist medial produzierter Unsinn. Ganz nebenbei: wenn da etwas schief läuft bei unseren Kindern und Kindeskindern, geht das ursächlich auf unser eigenes Versagen zurück… Die Sicht der ganz Jungen hat übrigens dieselbe Prägung, nur spiegelverkehrt. Aber im Unterschied zu uns scheinen die mitunter genauer zu wissen, wessen Produkt sie sind.


100 Tage: Ira Theofanidis und Carl Martin Spengler. Foto: Theater im Palais

Das Berliner Theater im Palais nimmt sich in seiner aktuellen Produktion dieses wohl immerwährenden Themas an. Das Stück heißt „100 Tage“ und stammt von Alina Lieske, die zusammen mit Matthias Behrsing auch die Musik komponierte und für die Regie verantwortlich zeichnet. Lieske stuft ihre Arbeit als „musikalische Komödie über den Ernst des Lebens“ ein. Das klingt sehr pädagogisch, sollte aber niemanden abschrecken. Den Abend stemmen neben Matthias Behrsing am Klavier nur zwei Personen: Carl Martin Spengler als griesgrämiger Dr. Magnus Schreiber und Ira Theofanidis als dessen fast jugendliche Kontrahentin Nelly Montagu.

Oh Gott, dachte ich im ersten Moment, welcher Schalk saß der Autorin bei der Namenswahl im Genick! Dr. Schreiber schreibt natürlich. Ein Buch, er weiß aber noch nicht worüber und ob überhaupt. Eigentlich wartet er nur sehnsüchtig auf seinen Abgang aus der Fronmühle seiner Praxis („bis dahin keine Termine!“) in 100 Tagen, um irgendwohin in die Einöde zu fliehen. Und Nelly Montagu? Klar doch, ein bissel Romeo-Schwärmertum steckt schon in ihr. Auch Nelly will natürlich nicht nur „irgendwas Kreatives mit Kunst“ machen, sie will Schriftstellerin werden. Und eine berühmte und bedeutende dazu. Aber sie hat immerhin soviel Realitätssinn, dass sie sich auf einen Brotberuf einlässt, der nur auf den ersten Blick chique ist.

Nelly beginnt als Sprechstundenhilfe in einer „Praxis für psychologische Psychotherapie“ – und wir lernen sie kennen bei ihren ersten Verrenkungen, diesen Begriff phonetisch korrekt auszusprechen. Wer jetzt spottet, soll das mal versuchen. Am Telefon… Jedenfalls will sie nach 100 Tagen eine „selbstbewusste, erfolgreiche und glückliche Frau“ sein. Man muss sich Ziele setzen. Steht in jedem Lebensratgeber. Dass sie das tradierte Geschlechterklischee bedient, obwohl sie beim Sprechen konsequent gendert, merkt sie nicht. Die Bühnenbildnerin Klara Rentsch setzt sie auch in ein barbiemäßiges Vorzimmer. Selbst die Kladde, in die Nelly ihre Beobachtungen und Erkenntnisse tagtäglich einträgt, stammt aus den pinkfarbenen Mädchenregalen von MacPaper. Und dann plappert sie auch so etwas von munter drauflos und trägt dabei das Herz auf der Zunge – Dr. Schreiber nennt das „emotional inkontinent“.

Dabei stört ihn eigentlich nur, dass Nelly „so unerträglich lebendig“ ist. Mit dem Tod seiner Frau wurde Schreiber zum Misanthropen. Sein Couplet „Mit dir ging die Sonne / Kälte drang ein“ ist ein sehr anrührendes Lied. Alina Lieske nutzt auf eine geniale Weise die Enge der kleinen Bühne des Hauses: die beiden belauschen einander nicht nur, die gesanglichen Soli enden regelmäßig im Duett. Am schönsten fand ich „Und die Zeit steht still…“

Das kommt aber erst nach der Pause. Bis dahin verdichtet die Autorin den Grundkonflikt des Stücks. Dieser Prozess zieht sich ein wenig hin, aber dann entfaltet das herzerwärmende Spiel – auch in seinen dramatischen Phasen – eine Leichtigkeit, die mich stark an Nora Ephrons „e-m@il für Dich“ (1998) nach Ernst Lubitschs Kultfilm „Rendezvous nach Ladenschluss“ erinnerte. Natürlich – soviel verrate ich noch – finden die beiden nicht auf gängige Art zueinander. Nelly hat schließlich ihren Nachbarn Felix. Aber…

Vorhang! Nein, den gibt es nicht. Aber „Schalter ein, Schalter aus“ (das ist jetzt ein Zitat…) – heftiger Applaus. Verdient!

100 Tage. Eine musikalische Komödie über den Ernst des Lebens; Theater im Palais Berlin, 10117 Berlin, Am Festungsgraben 1.
Wieder am 4. 12., 19. 12. 2024 und am 19. 1.2025.

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„Bach passt einfach zu allem“, postulierte Peter Sommeregger (klassik-begeistert.de) am 16. Oktober 2023 nach der Uraufführung von John von Düffels (Text) und Ansgar Weigners (Regie) „Der Teufel im Lift“ an der Neuköllner Oper in Berlin. Begeisterung klingt anders. Dieser Tage wurde die Inszenierung – es handelt sich genaugenommen um eine mit einer Spielhandlung unterlegte Collage von Arien und Motetten Johann Sebastian Bachs – wieder in den Spielplan des Hauses genommen. Als Orchester agiert die lautten compagney BERLIN (musikalische Leitung Wolfgang Katschner). Wer das Ensemble kennt weiß, das sind exzellente Kenner barocken Musizierens, Qualität ist garantiert.


Der Teufel im Lift: lautten compagney BERLIN. Foto: Neuköllner Oper/Thomas Koy

Mit dem Anschlagen des ersten Taktes lehnt man sich also beruhigt zurück, nachdem man vom Bühnenbild Jürgen Kirners – er hat eine billig wirkende Hotel-Lobby gebaut – leicht beunruhigt wurde: BWV 227 „Jesu, meine Freude / meines Herzens Weide / Jesu, meine Zier…“ Aber der Bachsche Satz schlägt plötzlich in Swing über. Und das funktioniert! Das 18. Jahrhundert ist zumindest musikalisch plötzlich sehr heutig.

Keine Sorge, mit der Musik geht es „klassisch“ weiter. Die Handlung selbst ist mit Ausnahme eines Zwischenspiels allerdings im Heute angesiedelt und setzt sich mit den Bemühungen der „forschenden Arzneimittelindustrie“ (den Begriff gibt es wirklich) auseinander, lebensverlängernde Substanzen zu entwickeln, die ihren zahlungsfähigen Kunden wenn schon nicht das ewige Leben, so doch zumindest einen erheblich gebremsten Alterungsprozess bescheren sollen.

Ist das nicht Teufelswerk? Ist das moralisch vertretbar? Sind wir überhaupt bereit und fähig, uns den letzten Fragen des menschlichen Lebens, den Fragen um das Sterben und den Tod aufrecht und offen zu stellen? Es ist der Teufel selbst – hier in seiner Doppelerscheinung auch als Dr. Vice (Johannes Wieners, ein beeindruckender junger Countertenor) – der den Protagonisten des Stückes und mithin dem Publikum Versagen und Verweigerung vorwirft. Konsequent, wenn das Geschehen in das seelenlose Agieren einer Abtreibungsklinik mündet. Die transportierte Botschaft, wenn dann aus dem Embryo plötzlich ein Tumor wird, erscheint mir jedoch mehr als zweifelhaft und konstruiert.

Bach passt eben nicht zu allem.

Aber die Kantate BWV 103 („Ihr werdet weinen und heulen“) passt hier schon: „Erholet euch, betrübte Sinnen, / Ihr tut euch selber allzu weh. / Laßt von dem traurigen Beginnen, / Eh ich in Tränen untergeh“, reimte Bachs Textdichterin Christiana Mariana von Ziegler munter drauf los. Christian Pohlers (Tenor) singt diese Arie, wenn sich Raquel (Frieda Jolande Barck, Sopran) ihr Pülverchen zum „Sniefen“ bereitet. So hatte die Zieglerin das eigentlich nicht gemeint… Den Namen Frieda Jolande Barck sollte man sich aber merken!

Natürlich mündet das menschlich-eitle Tun bildlich gesehen im kompletten Scheitern. Am Ende grinst immer der Teufel am Höllentor, auch wenn das wie ein Hotel-Lift aussieht: „Bäche von gesalznen Zähren, / Fluten rauschen stets einher. / […] Hier versink ich in den Grund, / Dort seh ich der Hölle Schlund“ (BWV 21, Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“).


„Und wenn die Welt voll Teufel wär‘ …“ Foto: Neuköllner Oper/©Kathrin Grzeschniok

Erlösend förmlich, wenn die lauttencompagney wieder mit „Jesu, meine Freude…“ einsetzt. Warum da das Ensemble noch ein – gut gespieltes, einverstanden… – Final-Allotria draufsetzen muss, verstehe ich nicht so recht. Aber irgendwie sollte wohl noch „Ein feste Burg…“ untergebracht werden. Das ist allerding toll und passt nun wieder: „Und wenn die Welt voll Teufel wär‘ / und wollt‘ uns gar verschlingen, so furchten wir uns nicht zu sehr. / Es soll uns doch gelingen“ (so Luthers Text, Bach variiert leicht).

Mit diesem Trost laufe ich gern die nächtliche Karl-Marx-Straße Richtung S-Bahn und bin überzeugt, jedem, aber auch jedem, der sich auf diese Inszenierung einlässt, wird sie etwas geben. Die Neuköllner wühlen das Innerste auf, und Bach passt tatsächlich immer. Ohne jede Ironie. Hingehen!

Der Teufel im Lift; Neuköllner Oper, 12043 Berlin, Karl-Marx-Straße 131-133.
Wieder am 27., 28., 29. November 2024; 4., 5., 6., 10., 11., 12., 18., 19., 20., 22., 27., 28., 29. Dezember 2024; auch 2., 3. 4., 5. Januar 2025.

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