Eine Wiederentdeckung – Der Dichter Harald Gerlach

Im Jahr 2007 erhielt der Schriftsteller Ingo Schulze den Thüringer Literaturpreis. Wie es sich gehört, bedankte er sich artig mit einer Rede, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass er als freier Schriftsteller nicht als Werbeträger in Erscheinung treten wolle. Der Preis wurde bis 2009 von der E.ON Energie AG finanziert. Schulze erklärte, dass er sein Preisgeld in Höhe von 6000 Euro für ein Literaturstipendium zur Verfügung stellen werde. Aus dieser durchaus ungewöhnlichen Tat heraus erwuchs das „Thüringer Literaturstipendium Harald Gerlach“. Erstmals wurde es 2009 an Lutz Seiler („Kruso“) vergeben. Seiler erhielt 2023 den Georg-Büchner-Preis. Im selben Jahr wurde Schulze übrigens Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Die vergibt den Büchner-Preis. Aber es soll hier nicht um die deutschen Literaturpreise gehen, sondern um den Namensgeber dieses Stipendiums.

Der Jenaer Literaturwissenschaftler und Publizist Ulrich Kaufmann erzählt diese Geschichte in seinem jetzt im quartus-Verlag erschienen Sammelband „’Von der Welthaltigkeit der Provinz‘. Studien & Stimmen – von & über Harald Gerlach“. Das ist ein fast 300 Seiten umfassendes Werk – vorbildlich gestaltet –, in dem Kaufmann eine Vielzahl unterschiedlichster Texte zum Werk und zur Biografie dieses wahrscheinlich vielen außerhalb des Freistaates kaum bekannten Thüringer Autoren zusammengetragen hat. Zu Wort kommen Freunde und Wegbegleiter des Dichters, fast alle „Harald-Gerlach-Stipendiaten“ steuerten etwas bei. Von Letzteren sehr berührt hat mich Vera Vornewegs – sie lebt in Düsseldorf – „Brief an Harald Gerlach“ vom April 2019, in dem die im gleichen Jahr mit dem Stipendium Ausgezeichnete ihre Verwunderung darüber kundtut, dass ihr als Westdeutsche ein ostdeutscher Literaturpreis zu Teil wurde. Zugleich dokumentiert sie in ihrem Text auf sehr behutsame Weise den Weg der Annäherung an den von ihr als wesensnah empfundenen Poeten.

Foto: Buchcover/Sammlung W. Brauer

Harald Gerlach hat dieser Brief nicht mehr erreichen können, er starb 2001 in Leimen/Baden-Württemberg. Nach Leimen gelangte Gerlach nicht wie andere Dichter aus der DDR, die in den Westen kamen. Ein anderer Thüringer, der jetzt bei Passau lebende Reiner Kunze zum Beispiel wurde 1977 aus der DDR verjagt. In Leimen findet Gerlach 1992 ein Obdach, nachdem er sein Rudolstädter Heim nach einem positiv beschiedenen Restitutionsantrag räumen musste. Er hatte 1986/1987 versucht am dortigen Theater Fuß zu fassen, nachdem ihm an den Städtischen Bühnen Erfurt – die hatten immerhin fünf seiner Stücke uraufgeführt – ein Verbleiben nicht mehr möglich war. In Rudolstadt werden der Intendant Manfred Heine und sein dramaturgischer Berater Harald Gerlach nach ihrer ersten Spielzeit aus politischen Gründen auf die Straße gesetzt. Gerlach muss den Mauerfall und die Implosion der DDR als Befreiung empfunden haben.

Aber … besser ging es ihm danach auch nicht. Wie gesagt, er fliegt mitsamt Familie aus der Wohnung – und die fest vereinbarten literarischen Projekte platzen auch. Thüringen scheint ihm nicht sonderlich wohlgesonnen. Auch das darf man wohl eine Art Vertreibung nennen. Neuerer Art und ohne Stasi und Parteizensoren. Wer ein wenig in der Literaturgeschichte stöbert, wird an vielen Orten und zu allen Zeiten solche Schicksale finden. Aufrechte Dichter waren niemals und nirgends besonders wohl gelitten.

1993 stellt Harald Gerlach in einer Dankesrede in Weimar anlässlich der Überreichung der Ehrengabe der Schiller-Stiftung eine in den frühen 1990ern selten gehörte Frage: „Wo in diesem so anders gewordenen Europa wird denn öffentlich reflektiert, daß mit dem Ruin der sozialistischen Gesellschaftsmodelle auch der seit langem sieche Aufklärungsgedanke mit seinem rigorosen Dualismus in die philosophische Ablage gewandert ist? […] Alles Nachdenken über die Gestaltung der Gesellschaft beschränkt sich derzeit auf unterschiedliche Modelle zur Verteilung der Gewinne.“ Das war auch ein sehr grundsätzlicher Angriff auf die seinerzeit von Gregor Gysi und der PDS heftigst betriebene „Umverteilungsdebatte“ der Gewinne, weil diese Partei nicht in den Ruch kommen wollte, die Eigentumsverhältnisse zu ändern. Man träumte schon sehr früh vom Mitregieren. Gerlach endet: „Ich wünsche diesem Land die späte Einsicht, dass verlorene Werte nicht durch den Mehrwert zu ersetzen sind, solange wir uns noch die Möglichkeit einer Zukunft offenhalten wollen“.

Ulrich Kaufmann nahm diesen Text in seinen Sammelband auf. Und dankenswerterweise auch einen Aufsatz, den Harald Gerlach im November 1994 für die Thüringische Landeszeitung schrieb: „Tretet raus und seht, was es gibt – Epilog einer ’89er Opernpremiere“. Die Überschrift spielt an auf Karl Ottomar Treibmanns Oper „Der Idiot“ (UA 1988 am Leipziger Opernhaus), deren Libretto Gerlach nach dem Roman Dostojewskis verfasste. In diesem Text heißt es: „Wer ein Leben in der DDR bis zu deren bitterem Ende durchgestanden hat, der kann auf eine einzigartige geschichtliche Erfahrung verweisen. Der muß nicht versuchen, sich anderen ähnlich zu machen.“ Das „uneingeschränkte Beharren“ des Einzelnen auf seiner Einzigartigkeit sei der entscheidende Widerstandsfaktor – gerade gegen eine Welt zunehmender Ungleichheit mit wachsendem Aggressionspotenzial. Eben die Erinnerung daran, dass „verantwortungsbewußt handelnde Bürger“ 1989 verhinderten, dass die Gesellschaft in Blut badete – mit dieser Horrorvision endet die Oper –, sieht Gerlach als Hoffnung für die Zukunft.

Nebenbei gesagt, wer besser verstehen will, was derzeit in Thüringen politisch abgeht, sollte diesen kleinen Aufsatz lesen.

Das Erinnern ist überhaupt Gerlachs Thema. Ulrich Kaufmann macht nachdrücklich auf Harald Gerlachs Prosadebüt „Das Graupenhaus“ (1976) aufmerksam. In diesem Kurzroman schildert der Autor die Geschehnisse rund um ein Kinderheim in Thüringen zwischen 1945 und 1961. Mir selbst fiel dieses Buch kurz nach seinem Erscheinen in die Hand und machte einen heftigen Eindruck auf mich. Das hatte sicherlich auch damit zu tun, dass zu meinen biografisch prägenden Erfahrungen als junger Mensch nach der großen Irritation des NVA-Dienstes die mehrmonatige Arbeit in einem Kinderheim gehörte. So manche Saite, die Harald Gerlach in seinem Buch anschlägt, sorgte bei mir für einen bis heute im tiefsten Inneren hörbaren Nachklang. Das war damals keine „erledigte Geschichte“, und sie ist es bis heute nicht. „Das Vergangene ist nicht tot, es ist noch nicht einmal vergangen“, sagt William Faulkner in „Requiem für eine Nonne“.

Dazu kam im „Graupenhaus“ eine für die offiziöse DDR-Bücherlandschaft ungewöhnliche Sprache: streckenweise sehr rau und mit schroffer Direktheit, dennoch mit einer poetischer Durchdringung geschrieben, die den Dichter immer wieder durchscheinen lässt. Und der Erzähler sprach Tabus an, die zu berühren in den 1970er-Jahren in der DDR Mut erforderte: Flucht und Vertreibung beispielsweise. Und dass der Mensch auch unter realsozialistischen Bedingungen nicht immer des Menschen Freund ist … Niemand erhebe sich über Gerlachs Befunde: Inzwischen ist es offenbar geworden, dass Flüchtlinge und Vertriebene auch im Westen nicht unbedingt mit offenen Armen aufgenommen wurden.

Wulf Kirsten, Dichterkollege und Freund Gerlachs, kommt in diesem Zusammenhang mit einer Entschuldigung zu Wort: „Dass ich seinerzeit Harald Gerlach ermutigte, wenn nicht gar bedrängte, am Tatort des Geschehens [gemeint ist Römhild; Gerlachs aus Bunzlau in Schlesien geflüchteter Vater war dort nach dem Krieg Leiter eines Kinderheimes und späteren Jugendwerkhofes – W.Br.] sich dem ortsansässigen Publikum zu stellen, darunter auch einige der Porträtierten, habe ich nach dieser Veranstaltung schwer bereut und mir eine Lehre sein lassen.“

Überhaupt Kirsten. Von ihm stammen einige sehr schöne und anrührende Texte im Buch. Wulf Kirsten, der große Landschafter unter den Poeten, unterstützte Gerlach nicht nur bei dessen Veröffentlichungen, er wurde zum Freund, Wandergefährten und selbstlosen Kollegen auf gleicher Augenhöhe. Das ist selten. Wer das Glück hatte, Wulf Kirsten kennengelernt zu haben, wird diese Tugenden bestätigen können. Bei der Lektüre des Bandes werden überhaupt die Konturen einer Dichterlandschaft deutlich, die in unserem nach lautem Getöns süchtigen Land zu Unrecht eine Existenz fast nur im Stillen führt: Walter Werner, Wulf Kirsten, Annerose Kirchner, Heinz Stade werden in Kaufmanns Buch hervorgehoben. Hanns Cibulka wäre unbedingt noch zu nennen.

Und Harald Gerlach, der Dichter, Dramatiker, begnadete Erzähler und kluge Literaturvermittler. Es ist einfach eine Schande, dass aktuell keines seiner Bücher im Buchhandel zu haben ist. Ich hoffe sehr, Ulrich Kaufmanns Sammelband landet auf dem Tisch des einen oder anderen Verlegers. Hier wären tatsächlich Welten zu entdecken. Ach Leute, gebt euch doch einen Ruck…
(6. Juli 2024)

Ulrich Kaufmann (Hrsg.): „Von der Welthaltigkeit der Provinz“. Studien & Stimmen von & über Harald Gerlach. Unter Mitwirkung von Bettina Olbrich, quartus-verlag, Bucha bei Jena 2024, 292 Seiten, 24,90 Euro.

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