Ein Berliner Geschichtsbuch „von unten“ – Der Parkfriedhof Marzahn (1)

von Wolfgang Brauer

Fast am Rande der Stadt, eingepfercht zwischen einem großen (weitestgehend ehemaligen) Industriegebiet und westlich der stadtauswärts führenden Trassen der Wriezener Bahn, der S7 und der Märkischen Allee, befindet sich am Wiesenburger Weg der Parkfriedhof Marzahn. Eine städtische Anlage, die außerhalb des Bezirkes kaum jemand kennt. In den zahlreichen Führer zu den Friedhöfen der Stadt findet sie allenfalls am Rande Erwähnung. Das hat damit zu tun, dass hier keine „Promis“ ihre letzte Ruhe fanden – obwohl, einige schon, aber die wollten anonym bleiben. Und die großen prächtigen „Erbbegräbnisse“ mit Kunstdenkmalwert gibt es hier auch nicht. Dafür gibt es Einzelgräber und ganze Grabanlagen, auf denen sich die Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert deutlicher als anderswo abbildet. Friedhöfe sind natürlich immer individuelle Trauerorte. Über lange Zeiträume hinweg sind sie auch das Geschichtsbuch einer Stadt. Man muss es nur lesen können. Ich beschäftige mich inzwischen seit gut drei Jahrzehnten mit diesem Ort. Nicht zuletzt veranlasst durch ein Projekt des Bezirksmuseums habe ich versucht, meine Arbeiten einmal zusammenzufassen. Daraus entstand eine Artikelfolge für die in Hellersdorf erscheinende Monatszeitschrift jot.wd, die aber leider kein online-Archiv mehr hat. Darum noch einmal auf diesem Wege … Wer die drei Folgen ausdruckt, hat den bislang immer noch fehlenden Friedhofsführer in der Hand.


Parkfriedhof Marzahn. Kriegsgräber. Foto: Wolfgang Brauer (2020)

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Angelegt wurde der Parkfriedhof als Städtischer Friedhof Lichtenberg im Jahr 1908. Die vorhandenen Bestattungsflächen der Stadt reichten nicht mehr aus. Zudem gab es mehr und mehr Probleme mit der wachsenden Zahl konfessionsloser Toter. Natürlich standen auch einzelne große kirchliche Anlagen Atheisten zur Verfügung: in einer separaten Ecke mit deutlich höheren Gebühren… Aber entscheidend war die Bevölkerungsexplosion im Zuge der Industrialisierung der Stadt. Zwischen 1871 und 1910 wuchs allein die Bevölkerungszahl Lichtenbergs von 3244 Einwohnern auf 133.141! Der Lichtenberger Magistrat – Lichtenberg und Rummelsburg waren bis 1920 selbstständige Kommunen –beschloss daher am 25. September 1908 den Ankauf eines ca. 86 Morgen (21,5 ha) großen Grundstücks am Wiesenburger Weg westlich der Wriezener Bahn von den Marzahner Bauern für einen Kaufpreis von 288.700 Mark. Als Friedhofsfläche wurden zunächst nur 29 (7,25 ha) Morgen genutzt. Heute umfasst die Anlage eine Gesamtfläche von 23,25 ha.

Am Tag der Einweihung am 29. November 1909 wurden die 16-jährige Arbeiterin Ida Biedermann aus Lichtenberg und der 45-jährige Arbeiter Ludwig Janonczyk aus Friedrichshain als erste Verstorbene beigesetzt. Zwischen dem 14. April 1910 und dem 21. März 1911 erfolgten bereits 249 Bestattungen.

1910 wurde die zunächst als Provisorium gedachte Trauerhalle eröffnet. Der viel zu kleine, inzwischen modernisierte, Bau erfüllt noch heute mehr schlecht als recht seine Funktion. Die Bauprojekte für ein größeres Gebäude 1920 und 1934 wurden nicht umgesetzt. Auch der für 1980 bis 1983 geplante Bau des Krematoriums II der DDR-Hauptstadt nördlich der jetzigen Anlage fiel Einsparungen zum Opfer. Von Anbeginn an war die Verkehrsanbindung problematisch. In den ersten Jahren war der Friedhof nur über den Haltepunkt Marzahn der Wriezener Bahn zugänglich. Hier wurde erst 1938 der Vororttarif eingeführt. Die Buslinie 37 von Lichtenberg-Friedrichsfelde endete ab August 1928 an der Marzahner Dorfkirche. Von da musste man laufen… 1976 wurde mit dem Bau der Großsiedlung die S-Bahn-Strecke bis Marzahn elektrifiziert und ein 10-Minuten-Takt eingeführt. Der Zugang zum Wiesenburger Weg blieb aber beschwerlich.

1932 wurde der Friedhof durch eine Verordnung des Berliner Oberbürgermeisters Begräbnisstätte für die „mit Mitteln der örtlichen Wohlfahrtspflege beigesetzten Hilfsbedürftigen“ der Stadtbezirke Mitte, Wedding, Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Treptow, Köpenick, Lichtenberg, Weißensee und Pankow. Dass „zur Zeit fast nur noch verstorbene Wohlfahrtspfleglinge in Marzahn beigesetzt werden“, gebe „dem Friedhof sein besonderes Gepräge“, schrieb am 25. Mai 1934 der Lichtenberger Anzeiger. Es war also bis 1945 der Armenfriedhof für die großen Arbeiterbezirke der Stadt.

Schon seit den 1920er-Jahren bildete sich hier auch politische Geschichte ab. Es entstand ein Soldatenfriedhof für Tote des Ersten Weltkriegs, hier wurden von den Freikorps während der Märzkämpfe 1919 in Lichtenberg Ermordete beigesetzt. Die Jahre 1933 bis 1945 gestalteten sich zu einem besonders furchtbaren Kapitel in der Geschichte des Parkfriedhofes. Hier existieren insgesamt 4875 nachgewiesene Einzelgräber zuzüglich 800 m² Sammelgräber für die „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“, wie es im verharmlosenden bundesdeutschen Sprachgebrauch heißt. Darunter befinden sich viele von den Faschisten Ermordete, im Krieg umgekommene Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, „Euthanasie“-Opfer und hunderte Bombenkriegstote. Dazu kommen viele in den letzten Kriegstagen bzw. an den unmittelbaren Kriegsfolgen Gestorbene. Ein besonderer Teil des Friedhofes ist der Ehrenfriedhof für bei der Befreiung Berlins gefallene sowjetische Soldaten.


Gedenkstein für die Opfer des Bombenkrieges. Foto: Wolfgang Brauer (2020)

Der Gedenkstein für die Opfer des Zweiten Weltkrieges

Unmittelbar am Beginn der Hauptallee stößt man linkerhand auf eine Kalksteinplastik, die der Bildhauer Erwin Kobbert (1909-1969) um 1951/1952 geschaffen hat. Mit der Inschrift „Euch Lebende mahnen 3330 Opfer des Bombenterrors“ soll an die Toten des Bombenkrieges gegen die Reichshauptstadt erinnert werden. Diese Plastik ist eines der wenigen Denkmale für die Bombenkriegsopfer in der DDR überhaupt. Gleichzeitig diente sie aber seinerzeit deutlichen poltischen Zwecken. Die Plastik stellt eine Schwurhand dar. Offensichtlich sollte ein Bezug zum „Schwur von Buchenwald“ hergestellt werden. Am 19. April 1945 traten die befreiten Häftlinge des KZs Buchenwald bei Weimar ein letztes Mal auf dem dortigen Appellplatz zum Totengedenken an und schwörten: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Mit der Inschrift des Gedenksteins hat dieser Schwur nur mittelbar zu tun.

Auch das Wort „Bombenterror“ ist mit der Errichtungszeit erklärbar. 1951/1952 erlebten der Kalte Krieg und die damit verbundenen Atomkriegsängste mit dem Korea-Krieg einen ersten Höhepunkt. In der frühen DDR war der Begriff „anglo-amerikanischer Bombenterror“ allgemein gebräuchlich. Ignoriert wurde, dass der Erfinder dieser Propagandafloskel Joseph Goebbels hieß, der ihn 1943 erstmals in Umlauf brauchte.


Ist die Inschrift sprachliche Hilflosigkeit oder ein bewusster Euphemismus? Die Platte wurde erst nach 1990 angefertigt. Foto: Wolfgang Brauer (2020)

Auch verwendete Zahl lässt sich nicht konkret belegen. Die genaue Zahl der Opfer des Bombenkriegs der alliierten Luftflotten gegen Berlin ist nicht mehr feststellbar. Der Militärhistoriker Olaf Groehler schätzt auf der Grundlage im Landesarchiv Berlin überlieferter Daten ihre Zahl auf 29.000 bis 30.000 Menschen, die bei insgesamt 310 Angriffen zwischen 1942 und 1945 starben. Die schwersten Angriffe auf die Stadt erfolgten im Winter 1945. Allein am 26. Februar 1945 warfen 1184 Flugzeuge insgesamt 1628 t Sprengbomben und 1250 t Brandbomben ab. Die Angriffe galten neben der Infrastruktur der Stadt hauptsächlich den Wohnvierteln der Arbeiter. Viele Bombenkriegsopfer liegen in Marzahn bestattet. Oftmals lassen sich nicht einmal mehr die Namen feststellen. Auch etliche Opfer des Angriffes vom 26. Februar 1945 liegen in unmittelbarer Nähe des Gedenksteines auf den Feldern 1c und 4.

Denkmal für Opfer des Stalinismus

Dieses Denkmal befindet sich ebenfalls am Beginn des Hauptweges, rechterhand am Rande einer kleinen Rasenfläche. Die allgemein gebräuchliche Bezeichnung ist inkorrekt. Es handelt sich um ein Denkmal mit dem an die Opfer der Stalinschen Deportationen der Russlanddeutschen nach dem Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion erinnert werden soll. Die Verhaftungen, Internierungen und nachfolgenden Deportationen von ca. 82% aller Deutschen in der Sowjetunion setzten bereits am Tag des Überfalls, am 22. Juni 1941 ein. Am 28. August 1941 wurden sie durch einen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR rechtlich sanktioniert.

Die deutsche Bevölkerung der UdSSR wurde pauschal unter den Generalverdacht der Kollaboration mit Hitler-Deutschland gestellt. Bis Juni 1942 wurden insgesamt 1.209.430 Menschen vor allem nach Sibirien, Kasachstan und das Ural-Gebiet verbracht und oftmals auf freier Strecke in der Steppe ausgesetzt. Viele Arbeitsfähige wurden in die Lager der „Trud-Armija“ (Arbeitsarmee) zur Zwangsarbeit eingewiesen. Unmittelbar im Zuge der Deporationen starben ca. 50.000 Menschen. Vorsichtige Schätzungen gehen von insgesamt 700.000 Toten durch Hunger, Kälte, Entkräftung, fehlende medizinische Betreuung und physische Gewalt aus.

Das Ensemble geht auf eine Initiative des in Marzahn-Hellersdorf ansässigen „Vision e.V. – Verein der Aussiedler in Berlin“ zurück. Ursprünglich strebte der Verein eine Denkmalsetzung auf einem größeren öffentlichen Platz des Bezirkes an. Das Denkmal wurde 28. August 2002, dem 61. Jahrestag des Präsidiumserlasses des Obersten Sowjets, eingeweiht. Es besteht aus zwei großen Platten und einem Sockel aus kasachischem Granit. Gestaltet hat es der russlanddeutsche Architekt Wilhelm Grässle. Die auf dem Sockel befindliche Bronzeplastik „Aus letzter Kraft“ stammt vom russlanddeutschen Bildhauer Jakob Wedel (1931-2014) und wurde vom Schicksal der Mutter des Künstlers angeregt, die ebenfalls zur Zwangsarbeit deportiert wurde. Anders als Wedels Vater hat sie diese aber überlebt. Auf dem Denkmalareal existieren keine Grabstellen. Inzwischen sind aber zahlreiche Nachkommen der seinerzeit Deportierten auf dem Parkfriedhof beigesetzt worden. Deren Gräber veränderten das „Gesicht“ des Friedhofes deutlich.



Jakob Wedel: Aus letzter Kraft
Foto: Wolfgang Brauer (2020)

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