Das Mädchen mit dem gelben Stern

Niemand schätze die Kunst, ein gutes Kinderbuch zu schreiben, gering. Kinder sind ein erbarmungslos kritisches Lesepublikum. Sie räsonnieren nicht, sie steigen einfach aus. Und was sie überhaupt nicht abkönnen, ist der pädagogische Zeigefinger. Den kennen sie zur Genüge von Eltern, Lehrerinnen – auch Lehrer praktizieren den – und all den Anverwandten und Bekannten, die sich mühen, dem Kind den „Weg ins Leben“ zu ebnen. Und es dabei mit allerlei „kindgemäßem“ Schrott in Rosa oder Hellblau zudecken. Und das soll es auch noch freiwillig in seiner Freizeit über sich ergehen lassen?




„Harry hat bereits den gelben Fleck auf dem Kleid gesehen, bevor das Mädchen ihn mit der Hand verdecken konnte.“ – Illustration von Anna Schilling (2024). Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Und noch schwieriger als Kinderbuch überhaupt ist es, ein solches über die schrecklichsten Zeiten der deutschen Geschichte zu schreiben. Sigmar Schollak (1930-2012) war das gelungen. Schollak hatte es als Schriftsteller und Publizist in der DDR schwer, 1982 verließ er das Land und ging in den Westen. Vorher war der unangepaßte Widerstandsgeist de facto in den Kinderbuchverlag der DDR „abgedrängt“ worden: Die „deutschen Zensoren … Toren“, meinte schon Heinrich Heine. Dort konnte Schollak einige noch immer lesenswerte Geschichten über den immerwährenden menschlichen Drang nach einem Leben in Freiheit unterbringen. Die wären noch immer lesbar und lesenswert – wenn sich denn ein Verlag ihrer annähme. „Sturm auf Harpers Ferry“ (1975) zum Beispiel.

Helmut Donat hat das mit dem 1978 erstmals erschienenen Büchlein „Das Mädchen aus Harrys Straße“ getan. Er hatte das Buch bereits 2011 auf Anregung Günter Kunerts herausgebracht, damals mit einem Nachwort von Ralph Giordano. Jetzt liegt eine Neuausgabe vor, die eine Besonderheit hat. Die Bremer „Beate + Hartmut Schaefers-Stiftung“ förderte die kostenfreie Abgabe von 5.000 Exemplaren an Bremer und von 10.000 Exemplaren an Berliner Schulen. Als Handreichung dazu ließ der Verlag von der Pädagogin Annette Lienhard ein unterrichtsbegleitendes Material entwickeln.

Sigmar Schollaks Erzählung behandelt die Shoah. Sein Buch hat durchaus eine autobiographische Dimension: Schollak wuchs in Berlin auf, genau da, wo seine Geschichte angesiedelt ist. Den Nazis galt er aufgrund des jüdischen Vaters als „Halbjude“. Der Held seiner Geschichte, Harry Kleinfeld, ist zur Handlungszeit im Sommer 1942 fast genauso alt, wie der Erzähler damals war: zehn Jahre.

Schollak verzichtet sehr bewusst auf breit ausgewälzte Erzählungen über die von den Nazis ausgeübten Grausamkeiten. Er belässt es bei Andeutungen. „Wenn’s nur das wäre!“, sagt der Vater, als Harry erzählt, dass die Juden zur Arbeit in ein Lager abtransportiert werden würden. Und: „Die wussten, was mit ihnen passiert. Man hat’s ihnen ansehen können.“ Das provoziert Nachfragen der jungen Leserinnen und Leser. Genau die beabsichtigt der Erzähler. Und es zerstört nicht den Fluss der Geschichte selbst.

Die handelt kurz gefasst davon, dass eben jener Harry auf der Treppe im Haus seines Freundes einem gleichaltrigen Mädchen begegnet, dass sich gerade das Knie aufgeschlagen hat. Beim Versuch, ihm zu helfen, entdeckt der Junge, dass das Mädchen – das er seit einiger Zeit aus der Ferne bewundert… – einen gelben Stern auf dem Kleid trägt. Jetzt will er mehr wissen. Warum sind (fast) alle den Juden gegenüber so feindlich eingestellt? Warum soll ausgerechnet Miriam, so heißt das Mädchen, ein „Ungeziefer“ sein, wie der Fähnleinführer bei der Jungvolkversammlung erklärt? Aus Harrys Versuchen zu verstehen, erwächst seine feste Absicht, Miriam zu helfen – schließlich sie zu verstecken.



„Wenn ihr zu Hause Ungeziefer in der Wohnung habt, lässt dann die Mutter auch einiges von dem übrig?“ – Illustration von Anna Schilling (2024). Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Sigmar Schollak erzählt in kurzen Textsequenzen sehr konsequent aus Harrys Sicht. Er verzichtet auf die Allwissenheit einer abgehobenen Erzählerperspektive Jahrzehnte nach dem unfassbaren Geschehen. Er lässt es im Unfassbaren. Im Vorwort verweist er darauf, dass sein Held sich „klug gemacht“ habe, als er bemerkte, dass rings um ihn nur Lügen waren.

Ich wünsche mir, dass „Das Mädchen aus Harrys Straße“ von vielen Kindern gelesen wird – und dass die wiederum Erwachsene an ihrer Seite haben, die ihnen helfen, sich „klug zu machen“. Und ihnen nicht mit dem Zeigerfinger einbleuen, was denn nun „wirklich die Wahrheit“ gewesen sei. Das funktioniert nicht. Wie schon gesagt, Kinder steigen dann einfach aus…

Antisemitismus kann man nur da ausmerzen, wo er als Keim verbreitet wird. Kinder kann man noch gegen Religions- und Rassenhass immunisieren. Bei Erwachsenen funktioniert das nicht mehr.

Sigmar Schollak: Das Mädchen aus Harrys Straße, Donat Verlag, Bremen 2024, 48 Seiten, 12,00 Euro.

Für die Genehmigung zur Verwendung der Abbildungen von Anna Schilling danke ich dem Verleger Helmut Donat.

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