von Wolfgang Brauer
Massa Marittima liegt in der südlichen Toskana, fast schon in Latium. Der Golf von Follonica ist nicht weit – daher Massas Beiname „Marittima“. Eine Traumlandschaft, eigentlich. Ein altes Lied nennt sie aber „Maremma amara“, „bittere Maremma“: „L’uccello che ci va perde la penna / Io c’ho perduto una persona cara“ (Der Vogel, der dorthin fliegt, verliert sein Gefieder. / Ich habe dort einen geliebten Menschen verloren). Das hat seinen Grund. Über Jahrhunderte war die Gegend malariaverseucht. Die Etrusker hatten es geschafft, das Gebiet weitestgehend trocken zu legen. Es war zusammen mit der Insel Elba ihr „Erzgebirge“. Die Römer vernachlässigten die Entwässerungssysteme, das eroberte Etrurien interessierte sie nicht sonderlich. In den folgenden Jahrhunderten taten die ständigen Kriege und die kleinstaatlichen Egoismen das Ihre. Die Stadt selbst aber erlebte im Mittelalter noch einmal eine Blütezeit, man nannte sie nicht zufällig Massa Metallorum. Damals hatte sie fast 10.000 Einwohner! Im 16. Jahrhundert triumphierte aber endgültig die Malaria. 1735 waren nur noch 327 Einwohner zwischen den Ruinen ihrer Mauern zu Hause. Die Einwohnerzahl des Mittelalters wurde erst 2000 wieder erreicht…
Massa Marittima (GR): Dom San Cerbone (1228-1304). Foto: Wolfgang Brauer/2024
Aber aus ihrer Hochzeit sind einige sehenswerte Bauten erhalten. Der Dom natürlich, allein die Treppen zum Hauptportal sind ein Erlebnis. Diverse Stadtpalazzi und die Stadtbefestigung … aber die Hauptattraktion liegt ein wenig abseits, an der Piazza Mazzini. Es ist das 1265 von Ildibrando da Pisa errichtete städtische Lagerhaus, der Palazzo dell’Abbodanza. Gleich daneben steht sinnigerweise aus faschistischer Zeit das Finanzamt. Aber das interessiert uns jetzt nicht. Die drei Arkadenbögen des Palazzos sind es. Hinter diesen befinden sich drei Wasserbecken, die heute allerdings leer sind. Im Mittelalter wurden sie von der einzigen Quelle in der Stadt gespeist. Für 10.000 Einwohner! Hier traf sich also notwendigerweise tutte le persone, alles Volk… Heute ist es ein sehr stiller Platz. Um 1300 war es mit Sicherheit anders.
Massa Marittima: Der „Fruchtbarkeitsbaum“ (1265). Foto: Wolfgang Brauer/2024
Seinen Beitrag dazu leistete garantiert das Fresko an der Brunnenmauer, das lange vergessen war und erst 1999 wieder freigelegt wurde. Etwas verschämt wird das Dargestellte („ein sehr modernes und profanes Fresko“) von den Touristikern Massas „Fruchtbarkeitsbaum“ genannt. Der ist ein imposantes Gewächs, aber an seinen Zweigen hängen erigierte Phalli, 25 Stück insgesamt sind neben prall gefüllten Hoden zu bewundern. Eine Frau versucht gerade, ihr erwähltes Exemplar vom Baum herabzuschlagen. Neben ihr haben sich zwei andere wortwörtlich in die Haare gekriegt und versuchen, sich ein bereits gepflücktes Teil streitig zu machen. Alles hätte man an einer derart öffentlichen Mauer erwartet – aber nicht dieses. Leider ist der Künstler bislang unbekannt, die interpretatorischen Verrenkungen wiederum sagen mehr über unsere Zeit aus als über die der Entstehung des Freskos: „Das Werk ist ein Sinnbild für Überfluss, eine Hymne an das Leben […]“. 1 Nun gut.
„Sich in die Haare kriegen“ – wörtlich genommen… Massa Marittima: Der „Fruchtbarkeitsbaum“ (1265 / Ausschnitt). Foto: Wolfgang Brauer/2024
Gelegentlich wird von Besuchern der Stadt auf den Baum aufmerksam gemacht. Manche sagen, man solle die gemachten Fotos nur Erwachsenen zeigen…
Eins wird aber deutlich: Das Mittelalter hatte zumindest in Mittelitalien ein gänzlich anderes Verhältnis zur Sexualität als wir in unserer von öffentlich zur Schau gestellter Pornografie und damit verbundener Prüderie geprägten Zeit annehmen. Giovanni di Boccaccio wurde erst gute 50 Jahre nach dem Entstehen dieses Bildes geboren, Pietro Aretino über 200 Jahre später! Deren Novellen waren allerdings nur der gebildeten Oberschicht zugänglich. Zum „Fruchtbarkeitsbaum“ strömten tagtäglich auch die Mägde und Knechte. Man kann das Bild aber auch als Mahnung, sich gefälligst nicht verführen zu lassen, lesen. Besonders überzeugend wäre das jedoch nicht.
Eine Mahnung sind allerdings eher die Fresken, die der Sieneser Maler Memmo di Filippuccio zwischen 1303 und 1310 für die Camera del Podestà, das Bürgermeisterzimmer, im Palazzo del Popolo in San Gimignano gemalt hat. Sehr viele Besucher gehen achtlos am Eingang des Raumes vorbei. Allenfalls interessiert noch die durchaus beachtliche kommunale Galerie – u.a. sind Werke von Filipino Lippi und Pinturiccio zu sehen – aber die meisten wollen eigentlich nur den Torre Grossa besteigen. Dabei lohnt es sich, die Fresken genauer zu betrachten.
Memmo di Filipuccio: Die Wiege der Liebe – Die Ehe (1303-1310, Ausschnitte). San Gimignano (SI) / Palazzo del Popolo. Foto: Wolfgang Brauer/2024
„Die Wiege der Liebe: Die Ehe“ wird die comic-strip-artige Bilderfolge über der Eingangstür genannt. Ganz brav wird eine in Weiß gekleidete Braut dem angetrauten Gatten zugeführt. Eine Magd öffnet die Tür zum Baderaum. Das Paar sitzt nackt, aber einigermaßen züchtig, im Badezuber. Der Gatte mit erwartungsvoll leicht gerötetem Gesicht. Das dritte Bild zeigt, wie dieselbe Magd für uns den Bettvorhang lüftet: Der Ehemann besteigt das Bett, die Gattin liegt bereits darin. Aber sie wendet dem frustriert in ihre Richtung blickenden Ehemann den Rücken zu. Sie scheint eingeschlafen zu sein – oder tut zumindest so. In meinem Kunstführer „Toskana“ meinen die Autorinnen, Memmo gebe die Frau „mit geschlossenen Augen und entblößter Brust schutzlos den Betrachterblicken preis“. Das ist Unsinn, die Szene hat nichts Erotisches an sich. Die Botschaft ist eindeutig: Lass mich gefälligst in Ruhe…
An der Fensterwand zur Piazza hat Memmo die „Profane Liebe“ dargestellt. Über dem Fensterbogen schildert er stark moralisierend die (finanziellen) Gefahren, vor denen ein junger Mann steht, der sich mit Prostituierten einlässt. Darunter an der linken Wandhälfte aber gleichsam das Fazit der „Wiege der Liebe…“: Der Mann kriecht auf allen Vieren, auf dem Rücken sitzt die Gattin und schwingt die Knute. Memmo di Filippuccio war noch kein Renaissancekünstler, allenfalls steht er stilistisch am Beginn des Übergangs zu ihr. Aber die „Podestà“-Fresken sind – wie die oben zitierten Touristiker von Massa Marittima hinsichtlich ihrer Brunnendekoration feststellten – „sehr modern“. Ein wenig den Bedeutungsnebel aus den Hirnen der Betrachter von Kunst des 13. und 14. Jahrhunderts zu pusten, vermögen sie allemal.
Memmo di Filippuccio: Die profane Liebe (1303/1310). San Gimignano / Palazzo del Popolo. Foto: Wolfgang Brauer/2024
Natürlich könnte man einen Essay über den Wandel in der Darstellung der Fingernägel von Memmo im Vergleich zu seinem Sohn und Schüler Lippo Memmi und den Geist der Protorenaissance schreiben. Man kann sich aber auch an den Fresken einfach nur erfreuen, in das nächste Bistro gehen und bei einem gut gekühlten Vernaccia über die Wiege und Wege der Liebe nachdenken….
(20. September 2024)
- https://www.visittuscany.com/de/attraktionen/fonti-dellabbondanza-in-massa-marittima/; letzter Zugriff 20.09.2024. ↩︎
Der Text macht Lust darauf, mal wieder nach Italien zu fahren. Ich war sogar schon in Massa, aber nicht in Massa Maritima, sondern in Massa (Carrara), wo man vom Marmor lebt. Ist übrigens auch noch Toscana. So viel Kunst haben wir leider nicht gesehen, denn wir hatten den Hund mit. Da ging es häufig in die Natur.