von Stephan Wohanka
Seit der Finanzkrise vor mehr als 15 Jahren erschüttern „multiple“ Krisen die Welt oder zumindest die Gesellschaften des liberalen Kapitalismus; eine reiht sich an die andere – Klimawandel, Pandemie, autokratisch-autoritäre Tendenzen, Ohnmacht der Regierbarkeit, soziale Deregulierung der Wirtschaft, Desinformation, Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten…. . Sind das nur zufällig aufeinander treffende Notlagen, oder verbirgt sich da mehr dahinter – eine gewaltige „Einfachkrise“ (Ingolfur Blühdorn); ein kaum aufhaltbarer Trend global-gesellschaftlicher Katastrophen?
Thomas Theodor Heine: Justitia (1903). Foto: Public-domain-via-Wikimedia-Commons
Das Potenzial der begrifflich auf Ulrich Beck zurückgehenden „Zweiten Moderne“ hat sich inzwischen erschöpft. Die Moderne überhaupt beginnend mit der Aufklärung brachte der westlichen Welt die Industrialisierung und die mit ihr Hand in Hand gehende Bürokratisierung sowie die Verrechtlichung der Verhältnisse. Parallel dazu bildete sich die bürgerliche Gesellschaft samt Nationalstaaten heraus. Die Theorie der Zweiten Moderne besagt, dass es zu einer Radikalisierung der Moderne gekommen sei – worunter die (wachsende) Autonomie des Individuums, die (ökonomische) Rationalisierung und daraus folgend der Fordismus fallen. Befeuert wurde dieser Prozess dann durch die Digitale Revolution; Marshall McLuhan sprach vom „globalen Dorf“, der Herausbildung der (kulturellen) Weltgesellschaft.
Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen der ursprünglichen Moderne und ihrer zweiten Phase sei die Unrevidierbarkeit der entstandenen „Globalität“. Die Prinzipien und Phänomene der Globalisierung gerieten zunehmend in Konflikt mit den Institutionen der Moderne; zum Beispiel mit dem Nationalstaat. Im Zuge dieser Entwicklung erhielten transnationale Konzerne zunehmend Macht, wohingegen selbige der Nationalstaaten in Relation dazu immer weiter abnehme; mit allen entsprechenden Folgewirkungen – eingangs teilweise genannt. Jedenfalls ist der lange vorherrschende Gedanke, dass unsere Gesellschaften quasi unaufhaltsam dabei wären, eine neue Form des ökologischen wie demokratischen Fortschritts hervorzubringen, nicht mehr als eine zu entzaubernde Legende. Stehen wir also insgesamt vor den Ruinen des modernen liberalen Denkens und Lebens?
Leben wir folglich in Zeiten, in denen eine bestehende Ordnung zerfällt und die neue noch nicht sichtbar ist? Niemand kann sagen, wie die Welt in zehn, ja in fünf Jahren aussehen wird. In solchen Umbruchszeiten sind Prognosen noch schwieriger als sie ohnehin sind. Wenn ich darüber nachdenke, ist mir klar, dass ich – tief verwurzelt in der bestehenden Ordnung – nur schlechter Ratgeber sein kann, wenn es um eine wirklich neue Ordnung ginge. Aber ich will schon fragen, ob es beim Übergang der einen in die andere nicht Elemente brauchte, die wie Brücken wirkten – damit nicht ein völliges Chaos entstünde, sondern ein tragfähige Passage in das Neue für das Neue.
Wenn es nicht brutal und unbarmherzig zugehen soll, kein Reich der Ohnmacht entstehen soll, dann meint „Brücke“ bis auf Weiteres: Einen gewissen Konservatismus, eine Verteidigung und weitere Inanspruchnahme der Institutionen, die entwickelt wurden, um die „Macht“ im Zaum zu halten, und die Ohnmacht der vielen einzelnen zu überwinden. Von der alten Ordnung sollte das bewahrt werden, was tragfähig sein könnte oder sollte: Neben Burgen und Kathedralen, technischen Artefakten, Kunst und Literatur sind die eindrucksvollsten Hinterlassenschaften und Zeugnisse der Vergangenheit Rechtsakte, Kodifikationen wie der „Codex Hammurapi“, das Römische Recht, der „Sachsenspiegel“, die „Magna Carta“ von 1215 oder der Napoleonische „Code civil“.
Ursprünglich legitimierten Herrscher ihre Macht über göttliches oder natürliches Recht, später wurde das Recht ein Mittel, um Herrschaft und Gesellschaft zu rationalisieren. In der Besonderheit des Rechts liegt also, dass es nicht bloß ein kulturelles Artefakt wie ein Gemälde oder eine Maschine ist, sondern eine soziale Ordnungsform, die zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verband und wohl weiterhin verbinden sollte: Ein geerbtes, zugleich aber beständig fortentwickeltes Normensystem, ein Kontinuum. Es gibt wohl eine rechtliche Struktur aller sozialen Realität… Recht in Gestalt der Gewaltenteilung, von Gerichten – als Grundlage allen staatlichen Handelns, als Grundlage allen Wirtschaftens, als Grundlage allen Zusammenlebens. Letztlich als Grundlage allen Vertrauens in die Gesellschaft. Das Recht wäre obige „Brücke“.
Aber auch Recht ist nicht gegen Zerstörung gefeit; das sehen wir gerade in den USA, das erleben wir auch hierzulande. Wir haben momentan nichts Besseres als das Recht, aber es ist immer wieder und in dieser Zeit mehr denn je, bedroht von mächtigen Interessen, von den Verlustängsten, von der Wut (vermeintlich) Bedrängter. Bedroht von der Resignation der Bürger, weil das Vertrauen oder die Hoffnung auf Recht und Gerechtigkeit enttäuscht wurden; beides Bestandteile der gesellschaftlichen „Grundausstattung“.
Und diese steht unter Druck – das ist ja gerade ein Bestandteil der eingangs beschriebenen „Einfachkrise“. Insofern und auch aus der Einsicht heraus, dass das Recht trotz aller historischen Kontinuität Veränderungen unterliegt, ist zu fragen, was mögliche (alternative) Entwicklungslinien des Rechts sein könnten – eine „sehr große Frage“, die stark davon abhängt, aus welcher Perspektive man sie stellt – politisch, technokratisch oder juristisch.
Staatswaage – Jedem sein eigenes Kreuz. Die ausgleichende Gerechtigkeit; anonym. Holzstich um 1842. Foto: Sammlung W. Brauer
Vorstellbar zumindest wäre eine Rückkehr zu naturrechtlichen Ansätzen, die eine „höhere Ordnung“ über dem jeweiligen positiven Recht sehen. Statt auf kodifiziertes positives Recht – „geschriebenes“ Recht durch Staaten und Institutionen – zu setzen, könnte man sich an überstaatliche Werte binden wie etwa Menschenwürde, Gleichheit, Gerechtigkeit oder ökologische Nachhaltigkeit. Wohl wenig wahrscheinlich….
Einen diametral anderen Zugang böte dagegen eine „technokratische“, das heißt datenbasierte Rechtsordnung, die darauf setzte, Recht durch Algorithmen, Künstliche Intelligenz oder datenbasierte Governance-Modelle zu ersetzen. Entscheidungen würden weniger oder gar nicht mehr durch Gerichte, sondern durch „objektive“ Systeme gefällt. Hier stellt sich natürlich sofort die Frage nach Macht, Transparenz und Manipulation.
Vorstellbar sind Lösungen „dazwischen“ wie eine vertragliche Weltordnung: Anstelle der heutigen völkerrechtlichen Ordnung, die stark von Nationalstaaten geprägt ist, könnte ein globaler Gesellschaftsvertrag treten. Staaten, Kulturen einigen sich auf neue Spielregeln, die nicht auf nationalem Souveränitätsdenken, sondern auf globaler Kooperation basierten. Es käme zu einer gewissen Pluralität statt einheitlicher Ordnung.
Noch „pluraler“ würde es, wenn die „starre“ Rechtsordnung durch Netzwerke, lose Abkommen oder flexible, situationsabhängige Rechtsformen ersetzt werden würde, die nebeneinander existierten. Da Recht dem „Überbau“ zuzuordnen ist, der bekanntlich die ökonomischen und so auch machtpolitischen Verhältnisse widerspiegelt, könnte das, was wir bisher als Recht kennen, durch ökonomische Steuerungsmechanismen wie digitale Plattformen, Märkte, Token-Systeme (vom englischen token economy, übersetzt etwa Münz-Eintausch- oder Münzverstärkungs-System – ein Verfahren erwünschtes Verhaltens durch Verwendung systematischer Anreize zu erreichen) oder durch globale Machtstrukturen wie Konzerne, (politische) Allianzen abgelöst werden, die sozusagen rechtskonformes „Wohlverhalten“ erzwängen. Auch hier stellt sich natürlich sofort die Frage nach Macht, Transparenz und Manipulation.
In allen diesen Szenarien wird sichtbar: Das, was wir heute „Recht“ nennen – eine Mischung aus nationalem Gesetz, internationalem Vertrag und richterlicher Praxis – ist ein historisch bedingtes Konstrukt. Wenn es wegfiele oder (partiell) ersetzt werden würde, entstünde nicht automatisch etwas „Besseres“ oder „Schlechteres“, sondern etwas Neues, Anderes, das zwischen Ordnung und Unterdrückung, gutem Gelingen und fatalen Wirkungen, Gerechtigkeit, Recht und Unrecht, zwischen Utopie und Dystopie liegen könnte. Wir wissen es noch nicht… aber ohne eine „Ordnung“, ohne einen minimalen rechtlichen Rahmen wird es nicht gehen. Schon Thomas Hobbes argumentierte in seinem „Leviathan“, dass ohne selbigen ein „Krieg aller gegen alle“ drohe. Insofern kann ich zumindest nicht über den Schatten meiner Verbundenheit mit einer gewachsenen Rechtstradition springen, denn Rousseaus Utopie, dass Menschen durch freiwillige Übereinkunft eine gemeinsame humane Rechtsordnung schüfen, die auf Freiheit und Gleichheit aller beruhte und die Repressionsinstitutionen und -apparate überflüssig machte, ist wohl entfernter denn je.
Wohanka schreibt: „Noch ‚pluraler‘ würde es, wenn die ’starre‘ Rechtsordnung durch Netzwerke, lose Abkommen oder flexible, situationsabhängige Rechtsformen ersetzt werden würde, die nebeneinander existierten.“ Und: „… könnte das, was wir bisher als Recht kennen, durch ökonomische Steuerungsmechanismen wie digitale Plattformen, Märkte, Token-Systeme … oder durch globale Machtstrukturen wie Konzerne, (politische) Allianzen abgelöst werden, die sozusagen rechtskonformes ‚Wohlverhalten‘ erzwängen.“
Bei allem Verständnis für die echten und auch die „nur gefühlten“ Probleme der gegenwärtigen „Rechts-Ordnung“ kann ich daraus nur den Eintritt in einen Mix aus Anarchie und Dikatatur ableiten.
Doch der Autor will ja, wie ich höre, ein „Diskussionsangebot“ unterbreiten. Da wäre es gut, wenn noch ein paar mehr Leute mit-nachdächten und mit-diskutierten (ohne ins Unendliche zu verfallen).
Die Aufforderung ist sicher sinnvoll, wobei Sie eigentlich auch gleich einen Anfang mit eigenen Gedanken hätten machen können.
Die Ableitung hin zu Anarchie und Diktatur ist als Option ebenfalls nicht abwegig; wobei Wohanka dies ja nicht präferiert, sondern als Möglichkeit anführt. Wie überhaupt festzustellen ist, dass er all seinen Optionen stets deren Risiken und Negativfolgen anbeigibt und also nicht Letztverbindliches anbietet.
Letzteres könnte ich leider auch nicht anbieten, anders gesagt: Keine Ahnung, wie es weitergehen wird. Vermutlich bleibt´s wieder mal der Zeit überlassen, es uns zu zeigen…
Heinz Jakubowski
Nachtrag:
Dass Anarchie, mehr noch wohl Diktatur zu den Fährnissen der Zukunft gehören, ist leider auch dann nicht ausgeschlossen, wenn man sie nur heftig verwünscht…
H.J.
Robert Menasse hat in dem aufrüttelnden Essay „Die Welt von Morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde“ (Suhrkamp, Berlin 2024) trotz oder gerade wegen seiner scharfen Kritik am jetzigen Zustand eine Lanze gebrochen für den Staatenbund der Europäer, der als wichtiger Schritt hin zur Überwindung des Nationalstaates gewürdigt wird.
Donald Trumps gespenstische Amtsführung seit Januar 2025 sind unter anderem der Versuch, die als wirtschaftliche wie politische Konkurrenz ausgemachte EU mittels des Prinzips eines auf kurze Entscheidungswege getrimmten Nationalstaates in Schach zu halten und abzuschütteln. Trump darf jetzt als mächtiger Vorreiter einer Welle nationalkonservativer Reaktion gelten, die in EU-Europa längst schon mehr als einen Fuß in die Tür bekommen hat. Im EU-Parlament haben die drei rechten Fraktionen – die Regionalisten, die Patrioten und die Souveränisten – zusammengerechnet 191 Sitze, die Europäische Volkspartei hingegen nur 188, die Sozialisten und Sozialdemokraten nur 136. Und noch ist der Scheitelpunkt der nationalkonservativen Welle gar nicht erreicht! Übrigens gehören die 40 Prozent, an die die AfD in ostdeutschen Bundesländern lt. Umfragen nun herangekommen ist, zu dieser nationalkonservativen Welle in EU-Europa. Alles andere als ein Ruhmesblatt für die betreffenden Bundesländer übrigens und wohl auch nur schwer zu erklären. Viel Stoff zum Nachdenken jedenfalls, Stephan Wohanka sei für die Anregung gedankt.
Wer über die hier in Rede stehenden Fragen nachdenkt, dem sei als Anregung Karl Schlögels Rede nach der Verleihung des Deutschen Buchpreises in Frankfurt empfohlen (ab etwa der Mitte des Videos:
https://www.zdf.de/play/interviews/buchmesse-150/friedenspreis-des-deutschen-buchhandels-2025-karl-schloegel-100
H. Jakubowski
Die etwa 18-minütige Rede Schlögels setzt ab 49:50 ein. Ja, man muss das alles schon im Zusammenhang sehen. Ich las heute in einem politischen Magazin weitschweifige und wortgewaltige Faschismus- und Nazismus-Erklärungen, dazu Warnungen, die den Beelzebub in Björn Höcke ausmachen! Das ist ziemlich schlicht. Ein anderer meint, Faschismus sei, wie alle wüssten, eine „brutale Herrschaftsform des Kapitals“ und glaubt, damit sei alles erledigt. Im selben Blatt wird in Permanenz das russische Glöckchen geläutet. Aber da geht es ja nur um „legitime Sicherheitsinteressen“. Wie schlicht! Ich bin dankbar für den Hinweis auf Karl Schlögel – und Holger Pollitts Warnung vor der „nationalkonservativen“ Welle. Wenn sich da zusammenrüttelt, was zusammengehört, dann Gnade dir Gott, aufgeklärtes Europa.
Ich fürchte nur, auch Schlögel wird von den Leuten, die schon immer Recht hatten, heftig als Knecht des Kapitals (und des „Westens“ – man gebraucht das synonym) attackiert werden. Vom Totalversagen der deutschen Linken schreibt aktuell Götz Aly anhand der frühen 1930er-Jahre. Das ließe sich fortsetzen…
Genau, wie Wolfgang Brauer das vorausgesagt hat – Linksaußen als Empörungsmodus; allen voran die Junge Welt mit ihrem bewährten Stasi-Denunzianten Schölzel…
Der schwarze Kanal
Kriegswart
(Junge Welt, Schölzel)
https://www.jungewelt.de/artikel/509274.kriegswart.html?sstr=schl%C3%B6gel
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„Russland ist der Feind“: Karl Schlögel erhält „Friedenspreis“ des deutschen Buchhandels
(Nachdenkseiten)
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Friedenspreis-osteuropahistoriker-karl-schloegel-auf-abwegen.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194876.friedenspreis-osteuropahistoriker-karl-schloegel-auf-abwegen.html
(Neues Deutschland)