Im Wunderhaus zu Schmiedebach

von Wolfgang Brauer

Das Neuruppiner Museum präsentierte im Frühjahr 2017 unter dem leicht reißerischen Titel „Knallrot, blitzblau, donnergrün!“ mit der Sonderausstellung „Faszination Papiertheater“ die Sammlung Rüdiger Koch. Koch – ein äußerst kreativer Geist – war der Gründer des in Berlin beheimateten Papiertheaters „Invisius“. Tragischerweise verstarb er 2023 mit nur 46 Jahren. Der Ausstellungsort Neuruppin war kein Zufall. Gustav Kühn produzierte hier ab den 1820er-Jahren seine berühmten Bilderbögen. Und zwischen 1840 und 1920 stellten seine Konkurrenten Oehmigke & Riemschneider Papiertheater in großen Auflagen her. „Knallrot, blitzblau, donnergrün!“ war übrigens ein Werbeslogan der Kühnschen Lithographenanstalt. Das Plakat der erwähnten Ausstellung zieren die donnergrünen Papierfiguren der Jagdgesellen Max und Kaspar: „Der Freischütz“ gehört seit jeher zu den Lieblingsstücken des Papiertheaters. Natürlich wegen der eingängigen Melodien, aber eben auch wegen seiner beinahe schlichten, comicartigen Dramaturgie.


Ein böhmisches Krippenspiel, der Rattenfänger von Hameln und die Walpurgisnacht auf dem Blocksberg – die Zauberwelt des Papiertheaters im Schmiedebacher Museum.
Foto: Wolfgang Brauer (2024)

Inzwischen sind die alten Theaterchen samt Zubehör und Spielfiguren von Sammlern hochbegehrte Objekte ihrer Begierde. Im Unterschied zu den Artefakten des „großen“ Theaters, selbst vieler Puppenbühnenformate, passt das alles in der Regel in ein Köfferchen. Sammler wissen das zu schätzen…

Aber irgendwann wird wohl bei allen der Platz zu knapp. Trennen will man sich auf keinen Fall von irgend etwas, sein eigenes Haupt muss man aber auch irgendwo im Haus oder der Mietwohnung betten… Genau das widerfuhr dem Mainzer Sammlerehepaar Leanthe (Penny) und Ludwig Peil aus Mainz. Um das Jahr 2000 herum verlegten sich die beiden auf das Sammeln von Papiertheatern und Marionetten. Das ist keine ganz zufällige Kombination. Zwischen beiden Theatergattungen gibt es fließende Übergänge. Professionelle Papiertheaterspieler versuchten und versuchen immer wieder, die naturgemäß starren Gliedmaßen ihrer Spieler irgendwie in Bewegung zu versetzen. Leicht schleicht sich da eine Marionette von der Seitenbühne in das Spielgeschehen. Jedenfalls platzte auch die Peilsche Sammlung bald aus allen Nähten.


Der große Sammlungsraum und seine Wächter.

Foto: Wolfgang Brauer (2024)

Wie so oft brachte ein Zufall die Lösung. Peils fanden bei eBay ein Angebot von Schreiber-Kulissenteilen – die Firma J. F. Schreiber aus Esslingen produzierte zwischen 1831 und 1988 qualitätsvolle Papiertheater –, folgten aus Neugier dem Vorschlag, sich das doch alles einmal „vor Ort“ anzusehen und landeten in Schmiedebach. Das malerische Dorf liegt mitten im Thüringer Schiefergebirge und gehört heute zur Stadt Lehesten. Der Anbieter betrieb in der alten Dorfschule Schmiedebachs ein „Schul- und Spielzeugmuseum“ und wollte beides, Schulgebäude und „Museum“, loswerden. Wie mir Penny und Ludwig Peil berichteten, zögerte man wohl nicht lange – und seit 2012 hat Schmiedebach ein „Marionetten- und Papiertheatermuseum“, das auf rund 200 m² Ausstellungsfläche inzwischen über 200 Papiertheater und hunderte Marionetten präsentiert. Das sagt sich so leicht daher …

Aber beim Betreten der Sammlungsräume blieb mir erst einmal die Luft weg: Die Theater stapeln sich förmlich, dazwischen überall die Puppen. Man weiß nicht, wohin zuerst die Augen richten. Im Eingangsraum fielen mir zunächst einige kleine Bühnen auf, deren Personage mir bekannt vorkam… Natürlich, da hocken Vater Spejbl und Junior Hurvínek am Tisch und der Knabe muss die väterlichen Belehrungen über sich ergehen lassen. Steht darunter nicht der Räuber Rumcajs aus Jičín und narrt die Gendarmen? Oder ist die Figur eine der vielen Erscheinungen, in denen der Berggeist, dessen Namen man nicht nennen soll, sich aus seinen Felsen in die Orte der Menschen begibt? Egal, die böhmische Herkunft können viele der Puppen nicht leugnen. Peils haben sie auf vielen Reisen in Tschechien aufgespürt – auch ein komplettes Theater Marke Eigenbau, für das sich dann die Transportfrage stellte. Heute ist das eines der größten Objekte ihrer Ausstellung und erzählt die traurige Geschichte, wie das ist, wenn die Kinder die Herzensprofession des Vaters nicht mehr weiterführen wollen.


Schublade auf, Bühne aufklappen – das Spiel kann beginnen! Alte
Bekannte aus der Sammlung Peil. Foto: Wolfgang Brauer (2024)

Während ich solch philosophischen Überlegungen fröne, öffnet Ludwig Peil ein kleines Stahlschränkchen und fischt ein schuhkartongroßes Behältnis hervor. Das wohl älteste Stück der Sammlung, ein wahrhaft zierliches französisches Rokoko-Theaterchen. Sicher nur zum Anschauen gedacht, aber reizend! Weiter in den nächsten Raum.

Hier kommen sie, die Theater der großen Verleger: J. F. Schreiber, Joseph Scholz, Oehmigke & Riemschneider und die sehr lange der romantischen Tradition verhafteten dänischen Hersteller. Was Wunder, aus diesem Land stammt Hans Christian Andersen. Manches ist aber auch Eigenbau. Da ist der Theaterliebhaber, der ein Papiertheater mit Magnetführung baute – die „klassische“ Form der Stabführung von oben ist nicht leicht zu handhaben, die Stäbe können durchaus stören. Und die Führung in eingefrästen Nuten macht es schwer, in die Tiefe zu spielen. Leider funktioniert dieses Theater derzeit nicht. Die komplizierte Technik wieder zu beleben – allein die Bühnenbeleuchtung ist atemberaubend! –, wäre eine Herausforderung sondergleichen.


Der böhmische Marionettenschrank / Sammlung Peil.
Foto: Wolfgang Brauer

Hier steht übrigens auch ein Marionettenschrank, der das ganze fröhliche Gewimmel der böhmischen Puppenspielkunst aufzeigt – alle gängigen Typen von liebenswert bis schurkisch sind vertreten. Nicht auszudenken, wenn die zu Mitternacht… Aber daneben hocken glücklicherweise prachtvoll geschnitzte Teufel, die halten die Bande wohl im Zaum. Die Wassermänner, in allen slawischen Kulturen omnipräsent, tauchen natürlich auch im tschechischen Puppenspiel auf. Bei Peils hängt eine halbe Wand voll davon. Im Marionettenschrank hält sich Vodnik zurück. Stärke zeigt er halt nur im Wasser…

Die Papiertheaterbühnen – die industriell gefertigten tragen klangvolle Namen wie „Urania“ oder „Thalia“ – sind von den Peils „belebt“ worden. Natürlich mit den im 19. Jahrhundert in ganz Europa so beliebten Szenerien aus Renaissance und Barock. Aber da ist auch eine recht heutige Richard-Wagner-Inszenierung, ein „Tannhäuser“ für Erwachsene. Frau Venus im hautengen Trikot, daneben ihre Gehilfin – mit den überdeutlichen Zügen einer deutschen Porno-Actrice –, im Hintergrund zwei Damen an der Stange… Im Papiertheater geht auch das.


„Der Tannhäuser“ / Sammlung Peil.

Foto: Wolfgang Brauer (2024)

Die Stange ist übrigens drehbar. Technisch ist das einfach lösbar. Es ist das Funktionsprinzip der Weihnachtspyramiden. Ja, die Bewegung, natürlich war es die Kunst der bewegten Bilder, die auch dem Papiertheater fast den Garaus bereitete. In der Peilschen Sammlung sind einige Bemühungen, den starren Papierbildchen mehr Bewegung zu verleihen, zu finden. Da ist zum Beispiel die simple Konstruktion, die dem tapferen Ritter wenigstens das Heben des großen Schwertes ermöglicht. Da sind Figürchen mit Gelenken versehen. Das ist schwer spielbar und überschreitet eigentlich schon die Grenzen der Papierbühne mindestens in Richtung Schattentheater. Kolja Liebscher aus Frammersbach hat das zur Perfektion entwickelt. Da ist aber auch ein großes Papiertheater mit einer richtigen Drehbühne. Ludwig Peil baut das gerade wieder auf. Ich bin sehr neugierig, wie das aussieht, wenn es fertig ist.

Aber so richtig seinen Zauber entfaltet – wie jedes Theater – auch das Papiertheater erst, wenn der Vorhang aufgeht und die Bühne zu leben beginnt. In den eigenen Räumen praktizieren das die Peils immer am Karfreitag. Und sie haben das große Kunststück vollbracht, seit 2016 alljährlich im August im Schieferpark Lehesten ein mehrtägiges Papier- und Figurentheaterfestival auf die Beine zu stellen. Über das diesjährige hatte ich berichtet. Penny und Ludwig Peil sind aber schon in den Planungen für das 2025er-Festival (vom 15. bis zum 17. August). Es gibt ein All-inclusive-Paket (mit Übernachtung) für alle drei Tage, man kann aber auch einzelne Vorstellungen buchen. Auf jeden Fall sollte man nicht zu lange zögern. Die Zuschauerzahl ist für jede Vorstellung bühnentechnisch bedingt begrenzt…


Mutabor!
Foto: Wolfgang Brauer (2024)

Am Ende unseres Rundgangs erscheint Penny Peil noch einmal. Sie müsse uns doch unbedingt ihren Lieblingszauberspruch präsentieren: „Mutabor!“ Und wedelt mit der Linken, und aus dem dicken Wesir wird ein Storch. Wer erinnert sich noch? Das ist der Zauberspruch aus Wilhelm Hauffs „Kalif Storch“. Aber Vorsicht, nicht lachen! Die Verwandlung in ein Tier ist sonst eine ziemlich einseitige Sache.

Aber im Schmiedebacher Wunderhaus darf man lachen, träumen, neugierig sein … Man darf hier wieder zum Kind werden ohne kindisch zu sein. Danke, Penny und Ludwig Peil!

Infos:
Marionetten- und Papiertheatermuseum Ludwig und Leanthe Peil. Schmiedebach 83, 07349 Lehesten.
Vorherige Anmeldung erforderlich: mobil 0163 5197917 oder E-Mail l.peil@gmx.de – hier auch die Kartenreservierungen für das 9. Thüringer Figurentheaterfest Lehesten 15.-17.8. 2025 (Übernachtungen sind im Hotel Schieferpark Lehesten möglich – „all-inclusive-Paket“).

2 Kommentare

  1. Vielen Dank, Wolfgang Brauer, für diesen interessanten Beitrag, der sehr neugierig macht und diese Anregung zum Nutzen verführt. Die Daten sollte man sich notieren und sicher rechtzeitig vorbestellen. Ich hab’s jedenfalls gemacht, solche Gelegenheiten sind selten.

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