Im Nebel, ohne Kompass

von Jörn Schütrumpf

Links bedeutet freiheitlich, demokratisch, solidarisch, oder kurz gesagt: sozialistisch. Eine »autoritäre Linke« – jüngst offenbar in einem sehr weltabgewandten Kämmerlein für das Neue Deutschland zusammengekünstelt – hat es nie gegeben, allenfalls Politiker, die sich in ihrer Jugend als Linke fühlten und für diese Überzeugung ins Gefängnis, ins Zuchthaus oder, später, auch ins KZ geworfen wurden bzw., wenn das Glück (und – bei den Parteikommunisten – die Parteiführung) ihnen hold war, rechtzeitig ins Exil hatten flüchten können. (Was bei Parteikommunisten, so sie ins »Vaterland der Werktätigen«, in die Sowjetunion, entkamen, jedoch oft tödlich endete – dort wurden mehr ZK-Mitglieder der KPD ermordet als in NS-Deutschland.)

Wenn diese Linken jedoch Macht erlangten – und sei es auch nur innerhalb einer Partei –, wurden sie, schon um nicht wieder von der Macht verdrängt zu werden, nicht selten autoritär, oft auch autistisch, und folgten der, der Öffentlichkeit natürlich stets unterschlagenden, Maxime: »Wer als 20-Jähriger kein Linker ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Linker ist, hat keinen Verstand.« Repräsentanten einer »autoritären ›Linken‹« waren sie deshalb jedoch keineswegs – Linke? viel zu viel der Ehre –, sondern allenfalls die einer simulierenden Linken. Das Interesse der simulierenden Linken am Sozialismus endet stets dann, wenn dieser Sozialismus nicht mehr dem eigenen Machterhalt nützt, sei es in einer Partei, sei es in einem Staat; das ist letzten Endes völlig egal. Frauen (sieht man ab von einer Ruth Fischer 1924/25) waren – das sollte nie vergessen werden – daran, zumindest führend, so gut wie nie beteiligt.

Die meisten Menschen, die heute auf Seiten der Linken in der Politik wirken, sind natürlich – Gott oder wem auch immer sei Dank – keine Simulierenden; es wäre ein Grauen, wenn es anders wäre. Diejenigen hingegen jedoch, die linke Politik nur simulieren, sind nichts anderes als bürgerliche Politiker, solche, die, um Geld verdienen zu können, fast immer anderes verkünden (müssen), als sie politisch tun. Nicht selten ist es das gerade Gegenteil. Dort und – durchaus: leider – nirgends woanders findet man die DNA bürgerlicher Politik sowie: nicht selten auch die sogenannter linker Politik.

Der »real existierende Sozialismus« war eine scheinparlamentarische, wirtschaftlich ineffiziente Variante bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft. Am aller Unangenehmsten war allerdings, dass dieser »Sozialismus« die Eierschalen feudaler Prägung nie abzuwerfen vermochte. Nicht zuletzt deshalb war er auch nicht überlebensfähig, erreichte er doch nicht einmal das im Rahmen bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft immerhin erkämpfbare Niveau: die Ausübung von Herrschaft in demokratisch-parlamentarischen und rechtsstaatlichen Formen. Oder wie es – der viel zu früh dahingegangene – Manfred Kossok 1991 ausdrückte: »In der bürgerlichen Revolution war der Zustand der äußersten Gewalt (kulminierend im Terror) ein transitorisches Phänomen, ehe sich um den notwendigen Preis der Rücknahme des Maximalismus die Institutionalisierung der ›zivilen Gesellschaft‹ durchsetzte. Für den Sozialismus blieb dagegen die Permanenz der direkten Gewalt situationsbestimmend; die gesellschaftliche Ausnahmesituation wurde zur ›Normalität‹. Die Gewalt wurde nicht nur der ›Geburtshelfer‹ (Marx) der neuen Gesellschaft, sie blieb ihre entscheidende Stütze.« Als 1989/90 Rechtsstaat und parlamentarische Demokratie erkämpft wurden, war es um den »real existierenden Sozialismus« geschehen, keineswegs zufällig.

Wirklich links war am »real existierenden Sozialismus« übrigens lediglich das, was im Klassenkampf von unten erkämpft, und keineswegs das, was von oben »gewährt« wurde. Nichts hat, bis in die letzten Tage ihrer Herrschaft, die SED-Führer – abgesichert von Panzern, die Stalin und seine Nachfolger zur Verfügung stellten – in ihrer Politik so geleitet wie die Angst, die die niedergeschlagene Juni-Insurrektion von 1953 tief in sie eingebrannt hatte; nicht einmal die, natürlich sich wechselseitig beeinflussende, Konkurrenz zwischen beiden deutschen Staaten. Letztlich reimte sich die DDR auf eine hochsubventionierte Fünf-Pfennig-Schrippe, die hinter Mauer und Stacheldraht verabreicht – und von Bauern, die auf Kosten der Gesellschaft im Nebenerwerb ein zweites Einkommen »erwirtschafteten«, an Schweine verfüttert wurde. (Futtergetreide wurde zum realen Preis verkauft.) Auch der Gulasch-Kommunismus in Ungarn war kein Geschenk, sondern das Ergebnis der 1956 niedergeschlagenen Novemberrevolution – gegen den »real existierenden Sozialismus«. Mit links oder gar »autoritärer Linken« hatte das alles jedoch überhaupt nichts zu tun. Denn Linke sind – mindestens – freiheitlich und demokratisch. Diesen »Vorwurf« kann man dem »real existierenden Sozialismus« nun wirklich nicht machen.

Zur Erinnerung: Die sozialistische Idee bzw. »die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift«. Nichts hat diese Einsicht des Klugen aus Trier überzeugender bestätigt als Leben und Schicksal des »real existierenden Sozialismus«. (Stalin et al. waren allenfalls von sich selbst ergriffen.) Niemand hat die Idee des Sozialismus nachhaltiger diskreditiert als die simulierende Linke – das haben in diesem Ausmaß weder Nationalsozialismus noch CIA vermocht (auch wenn ihre aufwendigen Bemühungen keineswegs vergessen sein sollten).

Gewiss, nicht alle der 2,3 Millionen Mitglieder der SED waren an dieser Diskreditierung beteiligt. Aber sag mir, wo sind sie geblieben? Es sind natürlich nicht nur die Mitläufer und Karrieristen, sondern auch die Unreflektierten geflüchtet; was für ein Glück.

Das wirkliche Elend dieser Welt besteht allerdings in etwas anderem. Von der Zerstörung, die nicht zuletzt durch unsere auf Ressourcenverbrauch beruhende Lebensweise verursacht wird – einschließlich der Flüchtlingsströme aus dem Globalen Süden – einen Moment einmal abgesehen: in unserem Unvermögen, Politik zu machen, die das Attribut »links« auch nur im Ansatz verdienen würde.

Was aber heißt überhaupt: links? Jahrtausendelang tobte ein Klassenkampf von oben. Die Rechte herrschte – ohne überhaupt zu wissen, dass sie die Rechte war. Es regierten halt Politiker. Erst die Revolution der Franzosen von 1789 ff. brachte die Vorläufer der Linken in die Öffentlichkeit. (Davor war das, was heute als Linke bezeichnet wird, höchstens kurzzeitig, z. B. in den 1530-er Jahren mit dem Täuferreich von Münster, sichtbar geworden.) In der französischen Nationalversammlung saßen die Vorläufer der Linken jedoch nicht links, sondern oben und nannten sich »Berg« oder »Bergpartei«; unten saß der »Sumpf«. Später wurde aus Oben und Unten Links und Rechts. Ich denke, es ist an der Zeit, zumindest im Selbstverständnis, wieder von Links und Rechts zu »Berg« und »Sumpf« zurückzukehren. – In diesem Zusammenhang: Eine Linie von Robespierre (vom »Berg«) zu Sahra Wagenknecht zu ziehen, ist wirklich eine Beleidigung: für Robespierre. Der Mann hatte immerhin Ideale …

Über Robespierre sei Lenin nicht vergessen. Lenin hat mit seiner Revolutionstaktik – und es war im Wesentlichen seine, die sich durchsetzte – zwischen 1917 und Sommer 1920 Russland ins 20. Jahrhundert geholt. Das macht seine weltgeschichtliche Bedeutung aus. Dass das Problem der Ablösung der kapitalistischen Produktionsweise und der an ihr hängenden bürgerlich-kapitsalistischen Herrschaft in Russland »nur gestellt werden«, aber »nicht … gelöst werden« konnte (Rosa Luxemburg, 1918), wurde Lenin, wenn überhaupt, erst auf dem Sterbebett klar.

Die von Friedrich Engels entdeckte Faustformel, nach der eine Revolution über ihre im Moment realisierbaren Ziele hinausgetrieben werden müsse, um nach dem – in jeder Revolution unvermeidbaren – Rückschlag (Thermidor) wenigstens die Ziele zu erreichen, die in ihren augenblicklichen Möglichkeiten liegen, glaubte Lenin, in Russland außer Kraft setzen zu können. Beim Aufstand seiner eigenen Elitetruppen in Kronstadt im Februar/März 1921 – gegen seine eigene Herrschaft – zog er, statt sich im Exil eine Professur zu suchen, es vor, zum ersten »linken« Thermidorianer zu werden. Wenn man von den Hingeschlachteten von Kronstadt und den Opfern der Bauernaufstände gegen die Parteidiktatur der Bolschewiki an der Jahreswende 1920/21 absieht, war das noch ein »trockener Thermidor« (so meinte zumindest Paul Levi, 1919–1921 Vorsitzender der KPD). Den »feuchten Thermidor« – den eigentlichen Thermidor unter den zuvor vermeintlich siegreichen Revolutionären selbst – holten die Bolschewiki mit der »großen Säuberung« von 1936 bis 1938 nach. Anschließend wussten nur noch einige wenige Überlebende, was ursprünglich mit Sozialismus gemeint gewesen war.

Noch ein Wort zu Stalin, dem »feuchten Thermidorianer«: Auch er war kein »autoritärer Linker«. Bei den Bolschewiki hatte er mit Banküberfällen und Mordanschlägen, also schlichtweg als Terrorist, reüssiert; mangelnde Intelligenz glich er mit Verschlagenheit aus. Links war an diesem Massenmörder, der sich »Führer des internationalen Proletariats« titulieren ließ und dessen Kultur darin gipfelte, Wodka mit Portwein zu mischen, nichts.

Nun jedoch – heute – wurde endlich eine Medizin gegen diese ganze jammervolle Geschichte des »real existierenden Sozialismus« entdeckt: Die »Liberalismusverachtung« sei es, die die »Grundtorheit der Linken« ausmacht – und nicht etwa die Verdrängung der Einsicht, dass in jeder neuen Generation von Linken eine Auseinandersetzung mit dem stattfinden müsse, was im 20. Jahrhundert im Namen der Linken in Massenmord, Mauer und Stacheldraht endete!

Vergessen ist außerdem, dass liberale und sozialistische Ideen Ausdruck der Abkehr der Menschheit von der Barbarei und im Übrigen ziemlich gleich alt sind. Vor 1933 stand bei Linken, die es gewohnt waren, Ganztexte zu lesen, Max Beers »Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe« (zuletzt 1931 mit einer Einleitung von Hermann Duncker) nicht nur im Bücherschrank. Dort lässt sich alles bis zum Alten Testament zurückverfolgen; aber wer liest heute noch Ganztexte? Es reicht allenfalls zur Erfindung einer »autoritären Linken«. Und so ist alles verblasst, nicht nur dass sich die liberale Idee erst seit der niederländischen Unabhängigkeitsrevolution von 1566 bis 1579, und selbst dann nur schrittweise, politisch durchsetzen ließ, sondern auch: dass dieser Fortschritt die entscheidende Voraussetzung war, die den Entehrten, Ausgebeuteten und Unterdrückten den Weg zu sozialistischen Ideen freimachte.

Das war im Liberalismus selbstverständlich nicht intendiert. Im Kern liberaler Ideen steht ein einziger Gedanke: der Schutz des Privateigentums an Produktionsmitteln vor wem auch immer, ob vor Raubrittern, ob vor dem Staat, ob vor den Verdammten dieser Erde. Dieser Schutz bildet – auch heute noch – das Alpha und Omega der kapitalistischen Produktionsweise; ohne diese Rahmenbedingung kann sie nicht funktionieren.

War zuvor der Staat stets Bestandteil der Wirtschaft, trennten sich mit dem Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise Staat und Wirtschaft. Die Wirtschaft konnte endlich »freihändig« laufen, bedurfte aber weiterhin des Schutzes durch den Staat – den ideologisch bis heute der Liberalismus prägt. (Politisch ist er weitgehend von der Bühne verschwunden.)

Allerdings liefen die Dinge aus dem Ruder: Mit der politisch-revolutionären Durchsetzung dieses Schutzes wurde ein Tor aufgestoßen, dessen Öffnung nie beabsichtigt war: das Tor zum von unten geführten Kampf um politische Freiheiten, begonnen beim aktiven und passiven Wahlrecht für alle Erwachsenen und weit über das Briefgeheimnis hinaus ausgebaut. Erst die politischen Freiheiten gestatteten, einen geschützten Raum zu erkämpfen, in dem – gefahrenarm – zwischen liberalen und sozialistischen Ideen gerungen werden konnte. Der von der Wirtschaft abgelöste Staat wurde nun zum Kampfobjekt zwischen den verschiedenen Klassenkräften.

Dass heute viele Menschen allerlei Geschlechts, die auf der Linken mittun, das nicht begreifen, ist leider Gottes Tatsache. Falls das mit »Liberalismusverachtung« gemeint sein sollte, muss man dem zustimmen. Was jedoch kein Grund ist, die Linke mit dem Liberalismus, also mit dem Schutz des Privateigentums an Produktionsmitteln, zu versöhnen.

Das Problem, vor dem die Linke steht, ist, hegelianisch formuliert: das »aufzuheben«, was der Liberalismus – oft wider Willen – an politischen Freiheiten ermöglicht hat, diese Errungenschaften, die immer bedroht sind, zu verteidigen und für ihre Erweiterung breite Bündnisse zu finden.

Bei alldem wird der Liberalismus jedoch kein Partner sein, sondern stets ein Gegner bleiben. Die Linke sollte sich endlich auf den Kampfboden stellen, den ihr die freiheitlich-demokratische Grundordnung (ganz und gar ohne Anführungszeichen) bietet und beginnen, linke Politik zu treiben – statt anderen hinterherzupfeifen.

Der Physiker Anders Levermann vom Potsdamer Klimafolgenforschungsinstitut hat jüngst vorgeschlagen, die Macht des Privateigentums an Produktionsmitteln einzuhegen: begonnen mit Gehaltsobergrenzen und längst noch nicht endend mit der Begrenzung von Marktmacht (»Die Faltung der Welt«, Ullstein 2023) – als Einstiegsprojekte für eine Re-Politisierung linker Politik eigentlich ganz sinnvoll. Wahrscheinlicher aber ist, dass Levermann aus dieser Richtung demnächst entlarvt werden wird: als »autoritärer Linker«.

(19. Juni 2024)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert