von Klaus Hammer
Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Czernowitz im Juli 1941 wurden die Juden, die einen großen Bevölkerungsanteil ausmachten, im Ghetto zusammengepfercht. Von dort gingen dann Transporte in das von der SS bewachte rumänische Arbeitslager Michailowka in Transnistrien (Ukraine). Zu den Deportierten gehörte auch das 18-jährige deutschsprachige Mädchen Selma Merbaum und seine Familie. Unterwegs gelang es ihr noch, ihr „Blütenlese“ betiteltes Gedicht-Album jemand zuzustecken, bevor sie kurz darauf – am 16. Dezember 1942 – entkräftet vom Fleckfieber im Zwangsarbeitslager starb. „Ich will nicht sterben. Nein: Nein“ hatte sie noch in ihr Poesiealbum geschrieben, bevor sie den Todesmarsch in die Deportation antreten musste.
Ihre 57 Gedichte gingen mit zwei jüdischen Schulfreundinnen Selmas bis nach Israel. Hier entdeckte Selmas einstiger Lehrer von der jiddischen Schule in Czernowitz, Hersch Segal, 1968 in einer in der DDR von Heinz Seydel herausgegebenen Anthologie „Welch Wort in die Kälte gerufen“ (1968) ein Gedicht Selmas, „Poem“; zwei ihrer Gedichte hatte Seydel in Bukarest von ehemaligen Czernowitzern erhalten. Segal konnte Selmas einstige Freundinnen in Israel ermitteln und brachte alle erhalten gebliebenen Gedichte Selmas in einem Privatdruck 1976 heraus. Aber als Lyrikerin wurde Selma eigentlich erst durch die Stern-Reportage des Journalisten und Exil-Forschers Jürgen Serke im Mai 1980 bekannt. Dieser veröffentlichte 1985 auch ihre 57 Gedichte unter dem Titel „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“. Und nun setzte eine beispiellose Wirkungsgeschichte ein. Selma Merbaums Gedichte wurden gedruckt, Auflage auf Auflage erschien, ihre Verse wurden auf Literaturveranstaltungen rezitiert, sie wurden vertont und von Interpreten gesungen, ein Hörbuch kam heraus, dem Iris Berben ihre Stimme lieh.
Von der Lyrikerin Hilde Domin auf Selma Merbaum aufmerksam gemacht, hat die Schriftstellerin und Biografin Marion Tauschwitz in jahrelanger Arbeit das Leben der jungen Dichterin rekonstruiert, Archivmaterialien ausgewertet und Zeitzeugen befragt. Ihrer 2014 erschienenen, erschütternd zu lesenden literarischen Biographie „Selma Merbaum – ‚Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben’“ (das waren Selmas letzte Worte in ihrem Gedichtalbum) hat sie alle Lyrik-Texte Selmas, nach den Originalhandschriften neu übertragen, beigefügt. Der Zuspruch war enorm, die Autorin erhielt auch wichtige Hinweise, neue Spuren zu verfolgen, so dass nun im 100. Geburtsjahr Selmas eine aktualisierte und erweiterte Neuausgabe herauskommen konnte. Die Schauspielerin Iris Berben, mit der auch ein Hörbuch der Gedichte Selma Merbaums produziert wurde, schreibt im Vorwort: „Die Biografie gibt Selma ihre Identität zurück, die die Nazi-Schergen ihr zu nehmen versucht hatten. Selmas Fühlen und Denken, Leben und Sterben werden uns nicht nur durch ihr Werk, sondern nun auch durch den Blick auf ihr Leben für immer in Erinnerung bleiben.“
In ihrer Biografie vereint Marion Tauschwitz schriftstellerisches Können mit wissenschaftlicher Akribie. Auch wenn sie Begebenheiten aus dem Leben der jungen Dichterin erzählt, überschreitet sie die authentisch-biographische Ebene nicht, lässt nie ihre Phantasie spielen, sondern hält sich an den einer Biografie gesetzten Rahmen. Doch sie versteht so einfühlsam, so bewegend zu schreiben, dass man trotz der Fülle zeitgeschichtlicher, biographischer, die Umwelt der jungen Dichterin erläuternden Umstände nicht mehr von der Lektüre loskommt.
Mit 16 Jahren – 1939 – hat Selma Gedichte zu schreiben begonnen und es blieben ihr nur knapp drei Jahre, bevor sie ins Zwangsarbeitslager deportiert wurde. Hat die junge Selma ähnlich aufbegehrt wie Anne Frank, als ihr Lebensraum im Ghetto von Czernowitz immer mehr eingeschränkt wurde? Sie fühlte sich „gefangen im Käfig der Gefühle“, so M. Tauchwitz, und es schien, als ob sie mit dem Schreiben noch ein zweites Leben bekommen hätte, ein geheimes, in der das wirkliche Leben stattfand, die Flucht in eine Freiheit, die ihr im Leben versagt war. Es ging ihr darum, sich selbst zu finden über den Prozess des Schreibens. Den Zwängen des Elternhauses, ihres eingeschränkten Lebens entfloh sie in die Natur, wie ihr vier Jahre älterer Cousin Paul Celan vertraute sie sich ihren Gedichten an, fand Anschluss an die zionistische Jugendgruppe Hashomer Hazair. „Und hast du auch noch tausend Sterne in der Hand – sie kann noch tausend tragen“, heißt es in einem ihrer Gedichte. Sie sprechen von der Ahnung, dass sich nichts erfüllen wird. Da ist die erste Liebe zu dem ein Jahr älteren Leiser Fichman, der dann tragisch auf seiner Flucht nach Israel ums Leben kam. Sie hatte eine Vision von einem erfüllten Leben, ihren Überlebenswillen schöpfte sie aus der Beständigkeit der Natur.
Dann ging alles sehr schnell. Bereits die im Juni 1941 in Czernowitz einrückende Rote Armee hatte mit der Deportierung jüdischer Bevölkerung nach Sibirien begonnen. Als dann die mit Hitler-Deutschland verbündeten Rumänen Anfang Juli nach Czernowitz zurückkehrten, begann der blanke Terror gegen die Juden: Verhaftungen, Erschießungen, die Ghettoisierung von 60 000 Menschen. Die ersten Transporte gingen ins Arbeitslager Michailowska ab, ins rumänische Lager diesseits des Flusses Bug, ins deutsche jenseits des Flusses.
„Der Schrei zerreißt die Idylle und zerrt das Hier und Jetzt ans Tageslicht“, schreibt M. Tauschwitz. Selma reflektiert die menschliche Existenz und die Flüchtigkeit ihres Daseins, ihre Furcht, sich „verschenkt“ zu haben und zu verschwinden, ohne Spuren hinterlassen zu dürfen. Zu verfließen „wie Rauch ins Nichts“ („Tragik“). Und im „Poem“ heißt es: „Sie kommen dann / und würgen mich. / Mich und dich / Tot. / Das Leben ist rot / braust und lacht. / Über Nacht / bin ich / Tot.“ Das Gedicht denkt den Tod als seinen Schatten mit. Ende Juni 1942 werden dann auch Selma, ihre Mutter und der Stiefvater nach Transnistrien transportiert und zum Straßenbau eingesetzt. Bis 1945 werden hier im Arbeitslager mehr als 50 000 Bukowiner Juden sterben, und die nur 18 Jahre alt gewordene Selma Merbaum, für die Schreiben Leben, Überleben bedeutet hatte, gehörte dazu: „Ich möchte leben. / Ich möchte lachen und Lasten heben / und möchte kämpfen und lieben und hassen / und möchte den Himmel mit Händen fassen / und möchte frei sein und atmen und schrein. / Ich will nicht sterben. Nein. / Nein…“
Ihr Gedächtnis – das Gedicht – bleibt.
Marion Tauschwitz: Selma Merbaum „Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben“. Biografie und Gedichte. Mit einem Vorwort von Iris Berben. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage, zu Klampen! Verlag, Springe 2024, 358 Seiten, 17,99 Euro.