von Reinhard Wengierek
BE: „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ nach Erich Kästner
Kurz vor Mitternacht. Nach fast fünf dröhnenden und keuchenden Stunden hält das entfesselte Castorf-Theater für einen Moment die Luft an: Ein Mann und eine Frau verharren frierend, aneinander Schutz suchend und nackt, wie Gott sie geschaffen hat, im kalten Licht einer irrwitzigen Welt.
In diesen langen, unvergesslichen Sekunden ist der Regisseur Frank Castorf mit seiner ansonsten gigantisch ausufernden, weitschweifenden Paraphrase auf Erich Kästners eher nüchtern kapitulierten Berlin-Roman „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ für zutiefst anrührende Augenblicke ganz bei sich.
Die Welt, gemeint ist ja mehr als bloß die mit Karacho untergehende Welt der Weimarer Republik vor dem Sturz ins Nazistische, die Welt also scheint blindwütig mit einem besinnungslos gierigen Tanz auf dem Vulkan vor die Hunde zu gehen. Doch einzelne – hier ein sich aneinander klammerndes Menschpaar –, die stehen vor uns: ganz und gar frei, wie verlassen von allen Göttern und Geistern, ratlos, staunend, stumm.
Was für ein überwältigendes, archaisches Bild. Und was für ein eindringlich fragendes Statement; was für ein Zwiespalt, eigentlich seit Menschengedenken: Gibt es noch Hoffnung? Hat noch Vernunft eine Chance? Oder ist schon alles im Orkus?
Oder dreht sich alles immer aufs Neue im Kreis?
Bei Erich Kästner gibt es kein „oder“. Nicht in der zensierten Erstfassung von „Fabian“ 1931. Und schon gar nicht in der kompletten, das Welten-Chaos sehr viel krasser demonstrierenden Edition von 2013. Und eben auch nicht in diesem das Krasse furios breitwalzenden Fünfstunden-Abend der seit drei Jahrzehnten angesammelten, jetzt nochmals erregt aneinandergereihten Castorfschen Inszenierungsideen und Schreckensbilder menschlicher Deformationen.
Titel (Softcover-Ausgabe 2021) der von Sven Hanuschek für den
Züricher Atrium-Verlag 2017 besorgten Rekonstruktion der Urfassung.
Foto: Sammlung W. Brauer
Es sind die Exzesse des Kaputten, des Ekels, der Brutalo-Egos, der Penis-Spreizerei, Vögelei und Gewalt (von Liebe keine Rede). Es ist die Rutschpartie auf dem ikonografischen Kartoffelsalat, sind die Koksereien und blutigen Kloppereien, Saufereien, Küsse und Bisse bis hin zu Mord, Folter, Totschlag, und noch dazu die endlos kreischenden Redeschlachten und grotesken breitwalzenden ؘؘ– alles schon gesehen. Mal mit großer Lust, mal mit ebensolchem Frust. Alles längst verinnerlicht.
Auch wenn dabei der Plot der Story roh zerkloppt oder fein zerschlagen wurde vom emsig bewegten Hammer der Dekonstruktion. Und noch dazu die Fülle der Assoziationsketten, Anspielungsgirlanden, Filmzitate; hier: „Kuhle Wampe“ nebst Schwarz-Weiß-Dokumenten aus dem Milljöh. Oder die Fremdtexte; hier Chamissos Geschichte vom Schlemihl, der seinen Schatten verkauft, sowie Verse von Baudelaire im französischen Original und sogar Privatkorrespondenzen (Beziehungsknatsch!) des Regisseurs. Gefordert sind also – wie immer, so auch jetzt wieder – fortgeschrittene Kenntnisse in Kultur-, Philosophie-, Kunst-, Literatur-, Film- und Popgeschichte. Und Szene-Insiderwissen.
Der ewig Castorfsche Furor, er zieht uns hinan. Wer nicht mitzieht, hat Pech. So einfach ist das. So toll und so unmöglich. So hochmögend.
Also Kästner höchstens als Stichwort-Lieferant, was wiederum einigermaßen passt. Ist doch sein Text, so der Autor selbst, kein Roman. Vielmehr ersetzt ein Kompendium von Episoden „Handlung“.
Doch wer, auch das wie immer, zuvor nicht brav gelesen hat, versteht selbst die Episoden kaum – dafür den Rausch.
Für die Höllenfahrt der beiden Freunde Fabian (Marc Hosemann, der so schön Heinz Rühmann oder Hans Moser imitieren kann) und Labude (Andreas Döhler, raubeinig und erpicht auf Puff) baute der ingeniöse Bühnenbildner Aleksandar Denic ein grellbuntes Berlin-Babylon-Karussell mit Nachtklub-Tresen, Bordell-Buden, Metzger-Laden, Schlafküchen-Zelle und natürlich Video-Wänden. Ein verschachtelt aufgetürmtes Pandämonium effektvoll auf die unermüdlich kreisende Drehbühne gewuchtet; besetzt mit einem furiosen Ensemble – herausfordernd glamourös die Weiblichkeit in Straps und Stiletto-Pumps –, das im Hochleistungssport schwitzend bis an den Rand der Erschöpfung getrieben wird. Wie auch das Publikum.
Doch da ist ja noch, kurz vor Schluss der bösen, schwarz-gerahmten Show vom ewig krampfenden Geschlechter- und Überlebenskampf, der Augenblick der Stille mit diesem Menschen-Denk-Mal. Diesem schweigenden Paar, das zwingend auf uns schaut…
Wieder am 17. und 18. Mai 2025.
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Schaubühne „Professor Bernhardi“ von Arthur Schnitzler
Wohl jeder kennt das nur zu gut: Man will das Beste, es kommt was dazwischen, die Sache läuft schief und schiefer und wird diversen Interessen entsprechend manipuliert, aufgebauscht, skandalisiert. Und alles zunächst gut Gemeinte verwandelt sich ins Gegenteil. Schließlich steht man nicht nur als Depp da, sondern als Versager. Oder Bösewicht oder gar als Verbrecher. Und alles durch übles Gerede, Geschreibe, Getwitter, durch Halbwahrheiten und Lügen. Eine intrigante gesellschaftliche Kommunikation macht so aus einem verehrten Unbescholtenen eine verdammte Unperson. – Das geschah in Arthur Schnitzlers Anatomie einer Intrige (Schnitzler nennt sie sarkastisch „Komödie“) anno 1912 dem Wiener Klinikdirektor Bernhardi.
Arthur Schnitzler (1931). Foto: Sammlung W. Brauer
Der Fall „Professor Bernhardi“, diese geschliffen scharfe Großaufnahme einer Menschenhatz im K.u.K.-Österreich, sprachlich behutsam dem Heute angepasst, spielt in der Berliner Schaubühne unter Thomas Ostermeiers Regie selbstredend im Jetzt – ohne vordergründige Aufladungen mit Gegenwärtigkeiten. Und erzählt vom renommierten Chef einer Privatklinik, der einer sterbenskranken, durch Medikamente jedoch in Euphorie versetzten Patientin die letzte Ölung verweigert, um sie im Glauben an Gesundung in sanfter Entrückung friedvoll einschlafen zu lassen. Durch einen blöden Zufall kommt der bereits herbei gerufene Priester, dem Bernhardi den Zugang ans Krankenbett strikt verweigert, dennoch ans Sterbelager.
Diese humane, aus menschlichen Gründen zutiefst verständliche Verweigerung, tritt nun eine gefährlich anschwellende Lawine aus Missverständnissen, Verunglimpfungen, Verleumdungen, Verteufelungen los – auf dem Hintergrund von Bernhardis Religionszugehörigkeit: Er ist Jude. Das Motiv konkurrierender Kollegen ist, ihren Chef abzusägen. Die Anklage heißt: „Störung katholischer Religionsausübung“.
Das Team der Weißkittel prägen Neid, Karrieresucht, direkter oder indirekter Antisemitismus oder aber Angst, Feigheit, Blauäugigkeit. So entsteht quasi durch Rufmord bis hinein ins Gesundheitsministerium eine vermeintlich faktengestützte, in Wirklichkeit jedoch vom Faktischen nahezu gereinigte Realität, die Bernhardi den Job kostet, ihn am Ende sogar vor Gericht und ins Gefängnis bringt. Aber am Anfang dieser unheimlichen Dynamik nur durch eskalierendes Gerede (nebst entsprechend erpresster Kollektivbeschlüsse) stand ein antisemitisch und darüber hinaus politisch korrekt begründeter „Sündenfall“ wider die Kirche.
Schnitzlers Demonstration der Mechanik einer durchschaubar absichtsvollen, ins Kriminelle zielenden Kommunikation anno 1912 greift erschreckend prophetisch ins Heute. So nämlich kann das – wenn wir nicht aufpassen – auch gegenwärtig funktionieren in unserem demokratisch-gesellschaftlichen, mithin politischen (noch dazu digital geprägten!) Betrieb.
Was für ein starkes Thema. Was für ein grandioses Zusammenspiel des Ensembles (15 Figuren). In diesem reinen Redestück entsteht alles wie aus dem Moment heraus – die fein gezügelte Rohheit, der elegante Sarkasmus, die banale Frechheit oder einfältige Feinfühligkeit. So keimt eine böse Stimmung, die unaufhaltsam ihren Sog entfesselt, der Vernunft und Mitmenschlichkeit verschlingt. Jörg Hartmann in der Titelrolle (vom TV-Kommissar wieder im Stammhaus) ist ein durch Herkunft, Leistung aber auch durch ein stur naives Vertrauen in die Kraft der Anständigkeit selbstbewusst bleibender Professor, der höchstens ob der ihm entgegenstürzenden Niedertracht erschrocken innehält, die er ansonsten aber – abgesehen von gelegentlich zynischen Einwürfen – mit der ihm eigenen beruflichen Professionalität betont sachlich pariert; freilich mit einem Anflug von vornehmer Bitterkeit. Letztlich aber steht er seltsam gefasst über dem grässlichen Lauf der Dinge. Sebastian Schwarz als kaltschnäuzig karrieregeiler Haupt-Gegenspieler Dr. Ebenwald oder Christoph Gawender als schmieriger Ministerialrat sind nur zwei Beispiele aus dem Ensemble, dessen Figuren geradezu vibrieren in ihrer Anspannung, die dann eher implodiert als sich explosiv Bahn zu brechen. Überhaupt: Hier handeln, bei aller klischeehaften Aufladung, Figuren, deren Spieler Klischees unversehens wegzuspielen imstande sind.
Die atemberaubende Spannung dieser Inszenierung entsteht, vom grandiosen Ensemble einmal abgesehen, durch die Genauigkeit und Coolness, mit der die Regie unter Vermeidung jeglicher melodramatischer oder propagandistischer Einschläge (doch unter Einschluss grotesk-komischer Momente) die hanebüchenen Vorgänge aufblättert und in die Katastrophe dirigiert. Faszinierend diese Balance zwischen nüchtern gesellschaftspolitischer Analyse und psychologischer Skizze; zwischen Draufsicht und Innenansicht. Unter zivilisatorischer Routine das Zerstörerische wie Feuer unterm Eis – die Bühne von Olaf Altmann zeigt einen blendend weißen, aseptischen Breitwand-Lichtraum.
Zu erleben ist das starke Stück eines politischen Menschentheaters, das im Politischen stets den Menschen sieht, den (in allen Zeiten) daran ein- und angebunden Einzelnen. Wie er schlau das Böse anzettelt, wie er das Gute verteidigt, wie er resigniert klein beigibt, wie wuchernder Opportunismus zum Schmiermittel wird auf der Bahn in den Abgrund. – Ganz große Regie- und Schauspielkunst! Zum Schluss mit einem Satz wie ein schwerer Schlag: „Wer dem Gewissen folgt, ist ein Rindvieh.“ Licht aus.
Wieder am 22., 24., 25., 30. April sowie am 1. und 2. Mai 2025.