Breitenbachs Breitseite und die Zahlen. Ein Analyse-Versuch

Am 11. Juni löste der einstige Berliner Linkspartei-Abgeordnete Hakan Taş – von 2011 bis 2021 gehörte er dem Berliner Abgeordnetenhaus an – einen leichten Sturm im lokalen Medienwasserglas aus. Taş teilte über facebook seinen Austritt aus der Linkspartei mit.1 Nach der Feststellung, dass DIE LINKE „den Draht zur Bevölkerung verloren“ habe, greift er in seinem Post mit für ihn ungewöhnlicher Schärfe die Parteispitzen an. Es bleibt unklar, ob er nur die Berliner Parteiführung oder die der Bundespartei gleich mit meint: „Die überhebliche Kaderelite ruft nach jeder verkorksten Wahl die selben Devisen aus und lässt sich von ihrer Anhängerschaft – die sich zumeist aus Beschäftigten der Partei und der Fraktionen zusammensetzt – aufs Neue feiern. Kritische Stimmen und Aktive außerhalb der eigenen Bubble werden seitens der mächtigen Parteiorganisation im KL-Haus schnell aus den Gremien gedrängt. Wer sich zum Spielball der Machtelite macht, wird gefördert.“

Diese Zustandsbeschreibung trifft durchaus. Hakan Taş ignoriert aber tapfer, dass er selbst einige Zeit zu dieser „Kaderelite“ gehörte und von anderen entsprechend gefördert wurde. 2021 verlor er sein Mandat und grollt offenbar seither. Genaueres ist nur schwer zu erfahren. Seine eigene Hompage ist abgeschaltet. Inzwischen spricht er aber von einem Projekt, „das von unbelehrbaren Berufsfunktionären und ihren Apparatschickis gegen die Wand gefahren wird“. Damit meint er DIE LINKE, seine ehemalige Partei.

Die liegt allerdings schwer angezählt am Boden. Seit den Europawahlen – die von Linken bislang immer gern als leichte Politikübung betrachtet wurden: keine Fünfprozentklausel, wir schaffen das locker… – ist das messbar. Satte 2,7 Prozent fuhr die Partei ein. Aber immerhin retteten sich der Parteivorsitzende Martin Schirdewan – gehört der Kapitän nicht bei schwerem Fahrwasser auf die Brücke? – und die Spitzenkandidatin Carola Rackete nebst der ziemlich unbekannten EU-Parlamentarierin Özlem Alev Demirel-Böhlke aus NRW für die nächsten fünf Jahre auf das trockene parlamentarische Inselchen. Die Kandidatur Racketes macht das ganze Dilemma der Partei deutlich. Als tapfere Seefahrerin machte sie sich im Mittelmeer im Einsatz für Flüchtlinge in Seenot gegen die geballte Frontex-Macht einen Namen. Genau das war der Hauptgrund für ihre Nominierung. Der bekannte Name sollte Stimmen ziehen. Das Gegenteil war offensichtlich der Fall. Mit der Partei hat Rackete wenig am Hut. Sie ist nicht Mitglied, und selbst der Name ist ihr unangenehm.

Mit solchen Kandidaturen hatten sich LINKE und PDS immer wieder verrechnet. Gelernt aus solchen Pleiten haben ihre Strippenzieher offenbar nichts. Nur: welche „Polit-Promis“ haben eigentlich noch Lust sich an Bord eines untergehenden Kahnes zu bewegen?

Für die kommenden Bundestagswahlen (Spätsommer oder Herbst 2025) vermelden die diversen Umfrageinstitute unisono drei Prozent Zustimmung für diese Partei.2 Bei FORSA und der Forschungsgruppe Wahlen erscheint nur noch ein Strich. DIE LINKE liegt bei ihnen unterhalb der Nachweisgrenze von zwei Prozent, existiert de facto nicht mehr. Der Bundespartei ist das wichtigste Kapital einer politischen Partei abhanden gekommen, das Vertrauen eines quantitativ relevanten Bevölkerungsanteils.

An dieser Stelle sei angemerkt, die direkte politische Konkurrenz steht entschieden besser da. Die AfD pendelt derzeit zwischen 16 und 18 Prozent, das BSW wird von den Instituten bei sechs bis sieben Prozent verortet. Mit leicht steigender Tendenz. Mit einer gewissen interpretatorischen Tollkühnheit ließe sich behaupten, ein Viertel der deutschen Wählerinnen und Wähler wollen eine grundlegende Änderung der deutschen Politik – in welche Richtung auch immer. Nur dass sie das eben der LINKEN nicht mehr zutrauen. Sie trauen ihr gar nichts mehr zu. Selbst jene, die ihre Programmatik noch goutieren, wissen um die nunmehrige Aussichtlosigkeit praktischer Umsetzungen – wozu die Linke dann noch wählen.

Der immer wahrscheinlichere Untergang der LINKEN auf Bundesebene ist eine Tragödie, zur vollendeten Katastrophe wird er, wenn man auf die Länder blickt. Starke Landesverbände waren schon zu PDS-Zeiten ein wirksames Gegengewicht zu einer irrlichternden Parteizentrale am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz. Auch damit scheint Schluss zu sein. In Schleswig-Holstein, Hessen (die Co-Vorsitzende Janine Wissler, erklärte Sara-Wagenkecht-Gegnerin seit langem, kommt aus diesem Landesverband), Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ist DIE LINKE nicht mehr messbar. In Bayern kommt sie gerade mal auf zwei Prozent. Hamburg (neben Berlin mit zehn Prozent) ist der Ausreißer mit neun Prozent. Im Westen ist die Partei zumindest für die Öffentlichkeit, das ist das Entscheidende, de facto tot.

Nach dem jüngsten Wahldesaster hat die aus Niedersachsen stammende Daphne Weber, sie ist seit 2021 Mitglied im Bundesvorstand der Partei, dem Vorstand ein Strategiepapier vorgelegt, das eine strikte Orientierung der Partei auf die Förderung der West-Verbände vorschlägt. Nach Webers Einschätzung müsste in den West-Ländern die Fünf-Prozent-Latte übersprungen werden, dann zöge man wieder sicher mit einer Fraktion in den Deutschen Bundestag ein. Immerhin hat sie eine Lehre aus der Nichtwirksamkeit eines anderen Strategiepapieres gezogen, das Janine Wissler und Martin Schirdewan zusammen mit Heidi Reichinnek und Sören Pellmann – Letztere leiten seit dem Abgang Sara Wagenknechts die noch verbliebene Gruppe der Partei im Bundestag – im April 2024 vorlegten. Das war der übliche linke Gemischtwarenladen. Weber konzentriert sich immerhin auf fünf Schwerpunktthemen, so der SPIEGEL am 14. Juni 2024.

Ich denke, hier würden in guter Absicht sinnlos die letzten Reserven der Partei verpulvert werden. Und, das ist das eigentlich Desaströse, setzte sich Daphne Weber mit ihrem Vorschlag durch, würde der Parteivorstand selbst mit der Axt an das Standbein der Partei, die ostdeutschen Landesverbände, gehen. In drei von ihnen wird im Herbst gewählt.

In Brandenburg liegen die Umfragewerte für DIE LINKE bei sechs Prozent, in Sachsen bei fünf Prozent, nur in Thüringen erreicht man noch 11 Prozent. Mit fünf Prozent kann die LINKE derzeit auch in Sachsen-Anhalt noch rechnen. Gewählt wird da allerdings erst 2026. In allen diesen Bundesländern besteht mit Ausnahme Thüringens hochgradig die Gefahr, dass die Partei aus den Landtagen fliegt. Allerdings gingen ihr auch hier die bislang verlässlichen Verankerungen in den Kommunen verloren (siehe meine Analyse „Blauer Himmel über Thüringen“). Das wird Folgen haben. In manchen kommunalen Vertretungen ist die Partei gar nicht mehr präsent, in einigen nur noch mit einer Stimme. „Allein im Rat – Was nun?“ betitelte das Kommunalpolitische Forum Thüringen e.V., eine parteinahe Vereinigung, eine online-Beratung, die am 18. Juni stattfinden soll. Von „Thüringen gestalten“ – das Forum nennt sich „Die Thüringengestalter“ – kann keine Rede mehr sein. Hier läuft ein harter Überlebenskampf.

Und deren Hauptkontrahenten sind die AfD (in Thüringen aktuell bei 28 Prozent in den Umfragen) und das Bündnis Sara Wagenknecht (BSW), für das von Infratest/dimap 21 Prozent vorausgesagt werden. Die beiden „Friedensparteien“ also, wie die Jeanne d`Arc der Querdenkerszene, die Bonner Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot beide Parteien offenbar einschätzt: „Wer hat bei der Europawahl gewonnen? Die kurze Antwort ist, diejenigen Partein, die für Frieden sind!“3 Die CDU respektive die Europäische Volkspartei (EVP) meint Guérot garantiert nicht.

Man muss genauer hinsehen. Das BSW steht in den ostdeutschen Länder – vielfach ohne nennenswerte eigene Parteistrukturen, man hat da offenbar Unterwanderungsängste, weniger vor rechts als vielmehr vor Leuten der Partei, der man gerade den Rücken gekehrt hat – aus dem Stand überraschend gut da: Sachsen-Anhalt und Brandenburg 13 Prozent, Mecklenburg-Vorpommern 14 und Sachsen 15 Prozent. Im Westen dagegen nichts. Ausnahme Baden-Württemberg (sieben Prozent). Das scheint die Festellungen des Berliner Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk zu bestätigen, der am 15. Juni in der Chemnitzer Freien Presse versucht hat, die aus Sicht der etablierten Parteien desaströsen ostdeutschen Wahlergebnisse zu erklären. Hinsichtlich der Lage in den westdeutschen Bundesländern meint Kowalczuk, die AfD sei „dort zwar im ländlichen Raum auch stark, aber die demokratischen Parteien stehen im Westen recht stabil. […] und es gibt nur Extremisten von rechts, nicht die von links. BSW spielt im Westen keine Rolle.“

Lassen wir die Frage, ob das BSW nun linksextrem ist oder nicht, einmal völlig beiseite. Dessen bisheriges Scheitern im Westen, da hat Kowalczuk recht, ist offensichtlich. BSW ist ein ostdeutsches Phänomen. Mit der AfD hingegen irrt sich Kowalczuk gewaltig. Die ist alles andere als ein reines „Ost-Problem“. Deren Umfragewerte liegen im Westen vielfach über denen des BSW im Osten. Hier die aktuellen Prozentwerte: Niedersachsen 21, Hessen 16, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz 15, Schleswig-Holstein 12, Bayern und NRW jeweils 11 und im Saarland sind es immerhin zehn Prozent. Hier könnte das BSW – der Lafontaine-Bonus! – allerdings auch einen nennenswerten Erfolg einfahren. Gewählt wird an der Saar aber erst wieder in drei Jahren.

Man sollte diese Werte beim Betrachten der ostdeutschen Daten im Hinterkopf haben. Der qualitative Unterschied besteht allerdings darin, dass nach derzeitiger Lage der Dinge in allen ostdeutschen Bundesländern (Ausnahme: Berlin) die AfD im Wartezimmer der Staatskanzleien sitzt. Auch hier die aktuellen Werte in Prozent: Sachsen 32, Thüringen 28, Sachsen-Anhalt 30, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg 25. Die wollen ans Ruder, und ihre Chancen stehen nicht schlecht.

Hakan Taş formulierte seine Zukunftspläne wie folgt: „Daher werde ich nach meinem Austritt alle Kräfte sammeln, um dem gesellschaftlichen Rechtsruck und der fatalen Regierungspolitik weiterhin den Kampf anzusagen.“ Zu diesem Zwecke denke er über einen Beitritt zum Bündnis Sara Wagenknecht nach, wie er der Berliner Zeitung mitteilte. Die ehemalige Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE) kommentierte das einigermaßen hasserfüllt: „Diese Partei trägt ihre rassistischen Positionen vor sich her. Und du gibst dich dafür her- als Feigenblatt für nationalistische und rassistische Politik.“ Das nennt man eine volle Breitseite. Von Breitenbach kennt man das nicht anders, aber auch andere legen nach.

Der Selbstzerstörungsprozeß der linken Bewegung in Deutschland ist nach der Europawahl offenbar in seine Endphase eingetreten. Die einst formulierte Gründungsabsicht der Wagenknecht-Partei, die AfD zu stoppen, darf als gescheitert betrachtet werden. Dafür hat sie der dahinsiechenden LINKSPARTEI den Todesstoß versetzt. Die „richtig Rechten“ – um eine alte Berliner Linkspartei-Floskel zu parodieren – sind dagegen nach wie vor im Aufwind. Im Spätsommer oder im Herbst 2025 wird der Deutsche Bundestag gewählt. Zur Jahreswende 2025/2026 wird dieses Land nicht mehr das sein, was es jetzt noch ist. Ich fürchte, so mancher, der im Moment einen radikalen Wechsel einfordert, wird dann mit Erschrecken aufwachen.

(18. Juni 2024)

1Der vollständige Text findet sich hier: https://www.facebook.com/100053696481990/posts/1068918884907984/?mibextid=WC7FNe&rdid=wBeZrwy87njI9XX6.

2Die von mir ziterten Umfragewerte sind entnommen aus: https://www.wahlrecht.de/umfragen/; letzter Zugriff: 17.06.2024.

3 https://weltwoche.de/daily/wer-hat-bei-der-europawahl-gewonnen-die-kurze-antwort-ist-diejenigen-parteien-die- fuer-frieden-sind/.

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