Vorsicht bei Nebel! Bemerkungen zu Jörn Schütrumpfs Beitrag „Im Nebel, ohne Kompass“

von Erhard Weinholz

Jörn Schütrumpf berührt in diesem Text eine Reihe vieldiskutierter Themen, fragt unter anderem, was als links, als sozialistisch gelten könne und wie, davon ausgehend, die Ordnung in der DDR zu charakterisieren sei. Es sind dies Fragen, die auch mich über Jahre hinweg beschäftigt haben und an die man, so schien mir nach genauerer Betrachtung, auf unterschiedliche Weise herangehen kann: Man kann Sozialismus zum Beispiel transitorisch verstehen, als Übergangsgesellschaft. Oder pragmatisch – das hieße dann, all jene Ordnungen sozialistisch zu nennen, die aus der gleichnamigen Bewegung hervorgegangen sind, jener Bewegung, die mit Marx und Engels im Bunde war. Jede dieser Herangehensweisen hat ihre Vorzüge und ihre Mängel, und beide habe ich mit mir selbst ausgiebig diskutiert – den Diskussionsverlauf hier wiederzugeben wäre jedoch zu aufwändig. Und dann gibt es noch eine dritte Variante, die ich die normative genannt habe und die u. a. Jörn Schütrumpf vertritt: Sozialismus, ich übertreibe mal ein bisschen, als das rundum Gute, das hier und nur hier zu finden sei. Denn das Normative hat ja nur dann Sinn, wenn man Perfektion verlangt. Der Sozialismus wird hier gleichsam vom Ideal her definiert – aber müssten nicht die Möglichkeiten der Wirklichkeit als Ausgangspunkt dienen? Dazu müsste man konkret-historisch herangehen – die Idee des Sozialismus ist ja uralt, und ihre Grundsubstanz hat im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zeitbedingte Ausformungen erfahren. Zu ihnen würde ich auch den autoritären bzw. diktatorischen Sozialismus rechnen, der, so vermute ich, zunächst eine gewisse Berechtigung hatte, aber nicht auf Dauer. Ob er sich grundsätzlich überlebt hat, weiß ich nicht, aber den hiesigen Verhältnissen war er schon seit langem nicht mehr angemessen, bestimmten Teilen der sozialistischen Bewegung sogar nie.

Jörn Schütrumpf nennt den hier einst „real existierenden Sozialismus“ eine „scheinparlamentarische, wirtschaftlich ineffiziente Variante bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft. Am aller Unangenehmsten war allerdings, dass dieser »Sozialismus« die Eierschalen feudaler Prägung [? – E. W.] nie abzuwerfen vermochte“. Ob das seinen Charakter hinreichend erfasst, bezweifele ich, will es aber nicht weiter debattieren. Problematischer ist für mich etwas anderes: Für jemanden, der behauptet, im Nebel zu wandern, bewegt sich der Autor entschieden zu sicher. Er meint genau zu wissen, wie man diese DDR charakterisiert, kein Versuch einer Annäherung, sondern ein „Sie war dies und das, und basta“. Und wer so vorgeht, weiß natürlich ebenso, wie Sozialismus stattdessen geartet zu sein hat. Auch wenn man bei konkret-historischem Herangehen zu ähnlichen Zielvorstellungen kommt wie Schütrumpf, der Anspruch wäre anders, vielleicht könnte man sagen: bescheidener. Passend zu seiner normativen Orientierung lese ich bei ihm gleich eingangs: „Eine ‚autoritäre Linke‘ – jüngst offenbar in einem sehr weltabgewandten Kämmerlein für das Neue Deutschland zusammengekünstelt – hat es nie gegeben …“ Jörn Schütrumpf kritisiert den „real existierenden Sozialismus“ scharf, seiner Denkweise bleibt er, wie mir scheint, in gewissem Maße dennoch verhaftet. Das erschwert auch jenes Debattieren, das eine freiheitlich-demokratische sozialistische Bewegung nun einmal braucht. Für Demokratie sind ja beispielsweise so ziemlich alle, aber beim konkreten Verständnis (Repräsentativverfassung oder Räteordnung? Zentralismus oder Basisautonomie?) gehen die Meinungen weit auseinander. Im übrigen hatte ich trotz meines Interesses am Thema Mühe, Schütrumpfs Text zuende zu lesen; teils lag das an seinem apodiktischem Tonfall, mehr aber wohl noch an seiner Redseligkeit.

Irgendwann stellte sich mir dann eine Frage, die ich für entscheidend halte, auf die Schütrumpf aber, wenn ich es richtig sehe, an keiner Stelle ausdrücklich eingeht: Angenommen, wir wüssten nach gründlicher historisch-konkreter Analyse, was unter Sozialismus zu verstehen ist und wie wir die DDR grundsätzlich einzuschätzen haben – oder meinen es zumindest zu wissen, was wäre damit für die politische Praxis der Linken gewonnen? Meines Erachtens nichts. Wollte man reale Vorgänge ausgehend vom Begriff lenken, bräuchte man eine Instanz, die ihm die dafür nötige Gültigkeit, Verbindlichkeit sichert. Aber die gibt es nicht, kann es nicht geben, der Begriffsinhalt ist konventionsbestimmt, das Wort „Sozialismus“ steht allen zur Verfügung, die für eine Ordnung, die ihnen als Alternative zur bürgerlichen erscheint, einen Namen suchen. Nehmen wir einmal an, daß irgendwo, irgendwann eine Partei, die sich als sozialistisch versteht, jedoch nicht sonderlich demokratisch orientiert ist, eine Mehrheit gewinnt. Falls da nun jemand aus dem Nebel tritt und erklärt: „Liebe Leute, so geht das nicht. Das! Ist! Kein! Sozialismus!“, wird das wenig bewirken. Und um die bis zum Herbst ‘89 in der DDR herrschende Ordnung abzulehnen, muss man sie nicht auf den Begriff gebracht haben. Wen also interessiert noch, ob dieses Land sozialistisch war oder nicht? Meine Antwort wäre „Keine Ahnung“ gewesen, hätte ich nicht vor zwei, drei Wochen hier gleich um die Ecke im „Balkan-Grill“ (oder war es in der „Thai-Pagode“?) Kalle und Eddi gehört, zwei klassenbewusste Berliner Arbeiter mit zerknautschter Mütze:

K.: Ick war ja letzte Woche bei den Vortrag von den —piep—.

E.: Meinste den —piep— vonna Dingspartei, den Historiker?

K.: Jenau. Und der saacht, nu halt da fest, dis war jakeen Sozialismus!

E.: Na dis is ja ne Schote. Meinste wirklich?

K: Na wennat saacht, denn mussit ja woll stimmn.

E. (nach einigem Zögern): Mensch Kalle, dis is ja dufte – denn könnwa doch nochmal anfangn!

K. (ebenfalls nach einigem Zögern): Jenau! … Eddie, du bist n echt klugit Kerlchen!

Und dann waren sie plötzlich verschwunden. Ich habe später noch diesen und jenen gefragt, aber niemand kannte die beiden, niemand konnte mir sagen, was aus ihrer Idee geworden ist.

(28. Juni 2024)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert