von Kurt Tucholsky
Also diesmal muß alles ganz anders werden!
Diesmal: endgültiger Original-Friede auf Erden!
Diesmal: Aufbau! Abbau! und Demokratie!
Diesmal; die Herrschaft des arbeitenden Volkes wie noch nie!
Diesmal.
Und mit ernsten Gesichtern sagen Propheten prophetische Sachen:
»Was meinen Sie, werden die deutschen Wahlen im Ausland
für Eindruck machen!«
Und sie verkünden aus Bärten und unter deutschen Brillen
– wegen Nichtkiekenkönnens – den höchstwahrscheinlichen Volkeswillen.
Sprechen wird aus der Urne die große Sphinx:
Die Wahlen ergeben diesmal einen Ruck nach links.
So:
⟻
Diesmal werden sie nach den Wahlen den Reichstag betreten,
diesmal werden sie zum Heiligen Kompromisius beten;
diesmal erscheinen die ältesten Greise mit Podagra,
denn wenn die Wahlen vorbei sein werden, sind sie alle wieder da.
Diesmal.
Und mit ernsten Gesichtern werden sie unter langem Parlamentieren
wirklich einen Ruck nach links konstatieren.
Damit es aber kein Unglück gibt in der himmlischsten aller Welten,
und damit sich die Richter nicht am Zug der Freiheit erkälten,
und überhaupt zur Rettung des
deutsch-katholischen-industriellen Junkergeschlechts
machen nach den Wahlen alle Parteien einen Ruck nach rechts.
So:
⟼
Auf diese Weise geht in dem deutschen Reichstagshaus
alle Gewalt nebbich vom Volke aus.
(Theobald Tiger, Die Weltbühne, 08.05.1928, Nr. 19, S. 711)
*
Am 9. Januar 1890 wurde Kurt Tucholsky geboren. Mit diesem Gedicht möchte ich an seinen Geburtstag erinnern.
Sein Text, also Theobald Tigers Gedicht, erschien am 8. Mai 1928 in der Weltbühne. 1928 glaubte Tucholsky noch an die Kraft der Vernunft und setzte auf die Wirkung der Satire. Mit Analogien sollte man vorsichtig sein, aber manches Heutige erscheint einem schon recht „Weimarisch“. Die letzte „Weimarer Koalition“ scheiterte im März 1930 an einem vergleichsweise bescheidenen finanziellen Problem. Es ging um eine Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung. Hermann Müller (SPD) trat ab, Heinrich Brüning (Zentrum) übernahm und regierte fortan mit Notverordnungen. „Passte“ der Reichstag nicht, wurde er aufgelöst. Der Weg in die Diktatur war vorgezeichnet.
In Wien scheiterte am letzten Wochenende der Versuch, die rechtsextreme FPÖ (28,85 Prozent, ein Plus von 12,68!) von der Regierung fernzuhalten – wie zu hören war an offenbar vergleichsweise bescheidenen steuerpolitischen Fragen. Ausgerechnet die ÖVP, die mit einem Stimmenrückgang von 11,19 Prozent eine Watsche sondergleichen erhielt, führt sich als Königsmacherin auf. Und Bundespräsident Alexander Van der Bellen beauftragte den FPÖ-Chef Hickl mit der Regierungsbildung. Plötzlich zeigt sich die ÖVP wieder „gesprächsbereit“… Van der Bellens Auftritt am 7. Januar war kinoreif: Streng auf dem Boden der Verfassung. Streng die Wahrung der Demokratie anmahnend. Voller Verantwortung für Volk+Vaterland. In einem Ambiente, wie wir es aus Sissi-Land lieben. „Gott erhalte, Gott bewahre…“
Die preußisch-rheinische Variante wird sich etwas nüchterner gestalten. Van der Bellen hat auch den entschieden besseren Schneider als sein deutscher Amtskollege. Nach Lage der Dinge kommen nach dem 23. Februar nur zwei Optionen in Frage: CDU/CSU mit der AfD oder CDU/CSU mit der SPD. Die wie schon zu Tuchos Zeiten zu (fast) allem bereit sein wird. Dem, was da auf uns alle zurollen kann, wird mit Satire wohl nicht beizukommen sein.
Aber der Blick zum Beispiel auf Kurt Tucholskys verzweifeltes Ringen um den Erhalt der ersten deutschen Demokratie kann helfen, im tagtäglichen Konzert der falschen Töne die wenigen unverstellten herauszufinden. Nein, Gleichsetzungen verbieten sich. Analogien gibt es durchaus.
Wolfgang Brauer / 8. Januar 2025
Kurt Tucholsky wäre heute 135 Jahre alt. Der Text passt sehr gut zu diesem Geburtstag …