von Heinz Jakubowski
Seit es Medien gibt … Foto: W. Brauer (2023)
In Deutschland erregt die stetig wachsende Zahl verschiedenster Kriminalfälle, allen voran immer brutalere Gewalttaten, die Gemüter. Mehr noch als um die Straftaten selbst dreht sich die disputable Rede um die Frage, inwieweit noch von der oft apostrophierten Wehrhaftigkeit der Demokratie die Rede sein kann; Strafverfolgung und -sanktionierung machen einen solchen Eindruck jedenfalls immer weniger. Sie sind eher von Hilflosigkeit gekennzeichnet.
Es passt merkwürdigerweise ins Bild, wenn gerade heuer ein Massenkommunikator wie der amerikanische Tycoon Mark Zuckerberg das Ende des Faktenchecks auf Plattformen seines Konzerns Meta (Facebook, Instagram, WhatsApp u.a.) ankündigt. Künftig sollen, so Zuckerberg, die Nutzer verantwortlich für die ethische und auch strafrechtliche Kontrolle dessen sein, was sie dort in alle Welt hinausposten. Damit würde die bisherige „Zensur“ beendet, mit der bislang bei Meta unternehmenseigene Kontrolleure – wiewohl nur mit überschaubarem Einsatz und Ergebnis – beauftragt waren. Wo also offenbar noch galt, dass Meinungen und Fakten verschiedene Dinge sind. Meinungen nur – ob zutreffend oder auch irrig – subjektiv aus Fakten abgeleitet werden können, nicht aber selbst objektive Fakten sind. Und dass ihre Verbreitung zu verhinden sei, wenn ihr „Meinungs“inhalt aus Lügen, Hass und Hetze besteht.
Bei Elon Musks vergleichbarem Unternehmen X (einst Twitter) gilt diese „zensurbefreite“ Praxis schon länger; bei Donald Trumps hauseigener Plattform TRUTH Social sowieso. Meinungsfreiheit, so der zugrunde liegende Meinungskanon, sei eines der höchsten Verfassungsgüter und gehöre rigoros geschützt; Gegenstand, Wahrheitsgehalt und Funktion der Meinungsfreiheit seien bedeutungslos…
Folgte man dieserart Logik, wäre sofortige Konsequenz gefordert, und zwar allerorten. Immerhin schränkt auch die Straßenverkehrsordnung als eine Zensur die individuellen Freiheitsrechte, also die eigentlichen privaten Intentionen der Verkehrsteilname, per Nötigung zu einem aufgezwungenen Verhalten ein. Oder gar das Strafgesetzbuch mit seinen 321 Straftatbeständen und deren fremdsteuernder Regelung individuellen Verhaltens. Wäre es nicht viel einfacher – und vor allem demokratischer – man überließe es dem mündigen Bürger, von kriminellem Verhalten eigenverantwortlich Abstand zu nehmen, als dies polizeistaatlich zu oktroyieren?
In seinen verzweifelten Gedichten „Merkt ihr nischt – ?“ (1922) und „An das Publikum“ (1931) fragte Kurt Tucholsky seine Mitbürger, ob sie nicht wahrnehmen würden, was sie gesellschaftlich umgibt und als existentielle Zumutungen betrifft und bedroht. Das zweitgenannte Gedicht endet mit den bitteren Zeilen:
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann…
Ja, dann verdienst dus nicht besser.
Ich fürchte, für ungefähr ein Drittel der mündigen Mitbürger im deutschen Lande ließe sich dieser Befund bestätigen. Ein weiteres Drittel kapiert schon, was vor sich geht, möchte sich aber den Genuss, den Verhetzungen und Hasskundgebungen zu bieten haben, nicht entgehen lassen, selbst wenn sie daran nur rezeptiv partizipieren. Schließlich ist die ungebrochene Liebe zu Kriminalfilmen und / oder -serien doch unstrittig unpolitisch. Und also haben doch nur wenige Rezipienten vor, selbst solche Verbrechen zu begehen, als sie visuell mitzuerleben sind. Was nur bestätigt: Zuckerbergs Vision von der freiheitlich-ethischen Selbst- und Alleinverwaltung des Menschen ist de facto bereits in praxi bewiesen.
Wobei – wenn die Auswirkungen von Dummheit nur die Einfältigen selbst beträfen, könnte man damit irgendwie leben. Da dem aber leider nicht so ist, bleibt noch ein Bezug auf einen anderen namhaften deutschen Künstler, Max Liebermann, der mit dem Blick auf die marschierenden Nazis nach deren „Wahlsieg“ (WAHL-Sieg!) erklärte: „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.“
Vielleicht sollte man damit schon mal anfangen. Dazu braucht man nicht mal Übersee in Anspruch zu nehmen. Und das nicht nur, weil Wolfgang Kubicki, immerhin ein Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Zuckerbergs Beschluss als „gute Nachricht für die freie Rede“ feiert … übrigens auf X.
Dass Meinungen „nur – ob zutreffend oder auch irrig – subjektiv aus Fakten abgeleitet werden können“, ist leider ein Irrtum dem auch der von mir sonst verehrte Heinz Jakubowski aufgesessen ist. Meinungen werden eben nicht generaell aus Fakten (selbst falschen, wie etwa, dass die Erde eine Scheibe sei) abgeleitet, sondern beim Einzelnen im Kopf konstruiert – nicht gänzlich unabhängig, jedoch weitgehend losgelöst von Fakten. Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass Einschätzungen wie „Hass und Hetze“ auch keine Fakten sind, sondern eine rein subjektive Meinung. Selsbt wenn sie noch so schön, oder (bitte) auch hässlich klingen. Ich gestehe hier mal öffentlich: Ich kann dieses Verdikt nicht mehr hören.
Lieber Herr Nachtmann,
danke zunächst für Ihr Interesse an meinem Text. Und ich bekenne sogleich, den Begriffsumfang des Faktischen nicht in seiner ganzen Komplexität verwendet zu haben; ja, auch Meinungen selbst können – je nach Verwendungszweck – selbst Fakten sein; selbst dann, wenn sie Fakten wiederum ignorieren, leugnen oder gar erfinden.
Dennoch: Auch wenn ich fürchte, mir den Vorwurf semantischer Spitzfindigkeit einzuhandeln, neige ich dazu, Ihre Kausalität, dass Meinungen „nicht gänzlich unabhängig, jedoch weitgehend losgelöst von Fakten“ im Kopf konstruiert werden, eher umzukehren; dass sie im Kopf also nicht gänzlich abhängig, jedoch weitgehend aufbauend auf Fakten entstehen; allein ihre Existenz ist dann selbst ein Faktum.
Wenn Sie sagen, sie könnten den Slogan, dass Hass und Hetze keine Meinung seien, nicht mehr hören können, verstehe ich das nicht nur, sondern teile es. Hass und Hetze sind sehr wohl Meinungen, nur eben ist deren Inhalt nicht zwingend geschützt durch den Verfassungsrang der Meinungsfreiheit, sonst würden sich bestimmte Verfassungsbestimmungen erübrigen, siehe u.a. Beschränkungshinweise im Artikel 5 des Grundgesetzes. Oder den des Artikels 18:
Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.
Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis
Mit besten Grüßen und Wünschen,
Heinz Jakubowski
Wahrheit? Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Wer bestimmt das? Ist das Weglassen von Fakten noch Wahrheit (siehe Corona)? Wer bestimmt, welche Fakten zugänglich werden (z.B. Statistiken, Geschichte, Palästina, Syrien)? Ist die Orientierung auf zugängliche Fakten Wahrheit? Ich denke, das Thema ist viel komplexer. Die absolute Wahrheit gibt es auch nicht nach Fakteneinsicht ( z.B. das Wissen über Flurid, Hexenverbrennung oder Banalitäten wie „Wie lange und wie oft kann/sollte man stillen?“). Die Zeit wie auch die Wissenschaft ist im ständigen Wandel. Und die Sieger schreiben die Geschichte. Ich höre da lieber auf mein Bauchgefühl, deshalb informiere ich mich auf „beiden“ Seiten.