von Wolfgang Brauer
Brockenmoor. Foto: Wolfgang Brauer (2006)
Bei unseren Geistesgrößen möchten wir es immer ganz genau wissen. Auf die Minute fast – und den Ort sowieso. Hat der Goethe nun mit der Charlotte – und wenn ja, wo und wann? Die Biographie des Meisters ist bis auf die Stunde genau penibelst recherchiert worden. Bis heute fand sich auf diese Frage aller Fragen keine überzeugende Antwort.
Bei Heinrich Heine herrscht noch größere Wirrnis. Das geht schon mit dem Geburtsdatum los. Er selbst erklärte einmal, er sei in der Neujahrsnacht 1800 geboren worden und mithin ein Mann des neuen Jahrhunderts. Letzteres stimmte zwar, aber das entsprechende Faktum hatte er poetisch verklärt. Allerdings unterlag auch Heine dem weit verbreiteten Irrtum, dem viele unserer Zeitgenossen zum Opfer fielen, als sie in der Silvesternacht des Jahres 1999 den Anbruch eines neuen Jahrtausends bejubelten. Es gibt kein Jahr „0“… Aber auch 1799 gab er als Geburtsjahr an; die heutige Forschung geht allerdings vom 13. Dezember 1797 aus. Endgültig klären lässt sich das nicht mehr. Die Akten sind verschwunden.
Poetisch verklärt sind auch seine „Reisebilder“. Bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschien 1826 deren „Erster Theil“, enthaltend auch die „Harzreise“, deren Vorabveröffentlichung in einer Zeitschrift zum Unwillen des Autors völlig verhunzt war. Dieser Text, zutiefst romantisch grundiert, wiewohl sehr konsequent diese Geisteshaltung zertrümmernd, machte den jungen Dichter berühmt: „Lebet wohl, ihr glatten Säle, / Glatte Herren! Glatte Frauen! / Auf die Berge will ich steigen, / Lachend auf euch niederschauen.“ Das kommt so stark aus dem tiefsten Inneren, dass es wohl jeder vom Zivilisationsfrust Geschüttelte bis zum heutigen Tage nachvollziehen kann. Und: In der „Harzreise“ – er selbst sprach von einem „Lappen-Werk“, die Dichtung blieb Fragment – ist der ganze spätere Heine im Kern angelegt.
Mit dem Nachwandern seiner Tour sollte man allerdings vorsichtig sein. Das geht schon mit der Terminierung los. Startete er am 12., 13., 14. oder 15. September 1824 in Göttingen? Am 27. September kam er auf dem Weg über Eisleben – das er wegen Luther aufsuchte – wahrscheinlich in Halle/Saale an. Am 1. Oktober war er jedenfalls in Weimar. Seine dortige ernüchternde Begegnung mit Goethe ging in die Literaturgeschichte ein. Danach unterzog sich Heine widerwillig aber zielstrebig wieder seinen juristischen Exerzitien in Göttingen und schloss brav sein Studium ab.
„H. Heine aus Dusseldorff. Stud. Juris in Göttingen“ – Heines Eintrag im Besucherbuch der Grube „Dorothea“ Clausthal (-Zellerfeld).
Foto: Wolfgang Brauer (2024)
Genaue Rechercheure kamen für einzelne Tagesetappen der Heineschen Harztour übrigens auf ein Pensum von 30, ja 40 Kilometern! Wer den Harz kennt weiß, das ist auch für heutige sportlich trainierte Wanderer ambitioniert… Zwei Daten sind belegt: Am 16. September trug sich „H. Heine aus Dusseldorff. Stud. Juris in Göttingen“ in das Besucherbuch der Grube Dorothea in Clausthal ein. Damit fällt schon einmal das Startdatum 15. September aus, das ist tatsächlich nicht zu schaffen. Am 25. Oktober 1824 werden in der Auflistung der Brocken-Besucher – so etwas gab es einmal! – im Wernigerödischen „Intelligenz-Blatt zum Besten des Waisenhauses“ für den 20. September zwei „stud. jur.“ nebst zwei „stud. theol.“ („sämmtlich aus Göttingen“) genannt. Einer hieß H. Heine. Wie die Göttinger Studiosi sich auf dem heiligen Berg der Deutschen aufführten, kann man in der „Harzreise“ nachlesen… Unser Dichter spottet im Brocken-Abschnitt recht überlegen über seine trunkenen Kommilitonen, aber mitgesoffen hatte er offenbar tüchtig: „… die Bescheidenheit erlaubt mir nicht, die Boutellienzahl zu nennen …“. Anderntags war auf dem Ilsestein der Restalkoholpegel offenbar noch so hoch, dass er auf der Spitze des Felsens „plötzlich die unterirdische Musik des Zauberschlosses“ der Prinzessin Ilse hörte und sah, „wie sich die Berge ringsum auf die Köpfe stellten, und die roten Ziegeldächer von Ilsenburg anfingen zu tanzen“. Gerettet hat ihn ausgerechnet ein eisernes Kreuz… Graf Anton zu Stolberg-Wernigerode hatte es 1814 zum ersten Jahrestag der Leipziger Schlacht errichten lassen. Die „Harzreise“ wäre sonst ungeschrieben geblieben.
So hat es Heine erlebt: das Brockenhaus auf dem Bild eines unbekannten Künstlers 1833 (Harzmuseum) / Ernst Helbig: Flutrenne mit Schloss Wernigerode 1849 (Städt. Museum Schloss Salder) / Georg Heinrich Crola: Ilsestein im Sonnenlicht (1858/Privatbes./Ausschnitt) – in der Bildmitte das eiserne Gedenkkreuz. Alle Fotos: Wolfgang Brauer (2024)
Wie auch immer: Das inzwischen 200-jährige Jubiläum der Heineschen Harzwanderung war für das Wernigeröder Harzmuseum Grund genug, eine sehenswerte Sonderausstellung zu veranstalten. Man kann die zitierten Dokumente betrachten. Man kann sich anhand zeitgenössischer Bilder und Grafiken einen Eindruck vom Gesehenen verschaffen – die „dunklen Tannen“ sind heute tot. Selbst Caspar David Friedrich wurde vor ihnen von der Ehrfurcht geschüttelt. Das Wernigeröder Schloss, es wurde erst ab 1862 auf „gotisch“ getrimmt, war noch der alte drohende Kasten hoch über der Stadt. Heine hat es nicht besichtigt. Er zog es vor, statt eines Besuches beim Grafen nach Elbingerode weiterzuziehen. Und anhand eines Modells der Grube Dorothea lässt sich nachvollziehen, dass das Einfahren in den Berg zu Heines Zeiten noch etwas ganz anderes war, als heutige inklusive Bergwerksbesichtigungen, bei denen man allenfalls durch die falsche Wahl des Schuhwerks nasse Füße bekommen kann.
Die diversen Brockenhaus-Ansichten sind aufschlussreich. Man sollte sich die Zeit nehmen und die wenigen Seiten aus der „Harzreise“, die sich mit dem Aufenthalt auf dem Gipfel befassen, in der Ausstellung lesen. Übrigens hatten sich die Kuratoren große Mühe gegeben, die Wanderroute Heines zu rekonstruieren. Nur bei zwei Tagesetappen gelang dies nachwanderbar. Von der Harzburg zum Brocken – von den jenseits von Brockenbahn und Kremser begehbaren Wegen auf den Gipfel ist das der angenehmste – und von dort der Abstieg durch die Schneelöcher und das Ilsetal nach Ilsenburg:„ … und so stiegen wir alle den Berg hinab … ungefähr 20 Mann, wobei meine Landsleute und ich, angeführt von einem Wegweiser, durch die sogenannten Schneelöcher hinabzogen nach Ilsenburg. Das ging über Hals und Kopf.“ Heute kostet dieser reizvolle Weg ein happiges Ordnungsgeld. Die Nationalparkverwaltung hat ihn, warum auch immer, gesperrt.
Auch Denkmale haben ihre Geschichte: Das Heinrich-Heine-Denkmal auf dem Brocken wurde am 16. September 1956 anlässlich des 100. Todestages Heines eingeweiht, die Plakette von Johannes Friedrich Rogge wurde aber bereits im August 1961 wieder abgeschraubt (der Brocken war Sperrgebiet). Am 8. November 1996 weihte der Harzklub-Zweigverein Schierke es in der Nähe des Wolkenhäuschens wieder ein. Foto: K. Morgenstern-Brauer (2023)
Alles andere ist einigermaßen spekulativ. Obwohl der junge Dichter neben zwei Pistolen (!) Friedrich Gottschalcks „Taschenbuch für Reisende in den Harz“ in der Ausgabe von 1817 nebst einer einigermaßen passablen Karte mit sich führte. Wie gesagt, Nachwandern ist riskant.
So kann man davon ausgehen, dass Heine das Selketal zwischen Alexisbad und Meisdorf durchwanderte. Den Sprung über den Fluss hat er („daß ich, indem ich über das Wasser springen wollte, just in die Mitte hineinplumpste“) hier garantiert nicht versucht; der Fluss ist da entschieden zu breit. Wenn, dann hat er das oberhalb von Günthersberge versucht – und da landet noch heute jeder im Modder. Oder war es doch wieder der Rotwein? Seinem Lob des „romantisch malerischen“ Unterharzes wird aber wohl jeder Harzkenner zustimmen. Dennoch vergibt er den Apfel der Schönsten der „Prinzessin Ilse“. So sehr ich Selke und Bode liebe, ich gebe ihm recht.
Überhaupt muss man sich dem Harz wohl mit einer gewissen Heineschen Unbefangenheit nähern, um ihm näher zu kommen. Die Wernigeröder Grafikerin Sabine Riemenschneider – ihr „Atelier Soso“ ist in der dortigen Büchtingenstraße 38 zu finden – hat das mit einem faszinierenden Holzschnitt „Heine auf dem Brocken“ ins Bild gesetzt. Von dem sind zwei verschiedene Drucke in der Ausstellung zu sehen. Glücklicherweise hat sie das Format 1,00 x 2,00 m gewählt. Das kann ich nirgendwo hängen…
Ich glaube, in den nächsten Wochen wird es manche wegen des Schnees und der Dampfbahn in das Gebirge ziehen. Und wen es dann nach Wernigerode verschlägt: gleich rechterhand neben dem Rathaus die kleine Gasse am „Gothischen Haus“ führt nach wenigen Schritten zu einer Straße mit dem merkwürdigen Namen „Klint“. Man läuft direkt auf das Harzmuseum zu.
Foto: Wolfgang Brauer (2024)
Heine im Harz. Entdeckungen am Rande einer legendären Fußreise, Harzmuseum Wernigerode, Klint 10, 38855 Wernigerode; noch bis zum 16. Februar 2025.
Bei Hentrich & Hentrich Berlin Leipzig erschien 2024 das lesenswerte Begleitbuch zur Ausstellung, herausgegeben von Elke-Vera Kotowski und Uwe Lagatz (28,00 Euro). Sabine Riemenschneider findet man hier.
Wunderbare Worte von jemandem, der offensichtlich den Harz liebt. Gerade habe ich noch Fontanes „Cecilie“ im Kopf, da werden schon wieder die Erinnerungen an Kindheit und Jugend im Harz geweckt. Das Wandern gehörte immer dazu, ob mit den Eltern sonntags oder der Schulklasse an den „Wandertagen“ zu den im Text genannten Orten.
Erinnerungen an eine gefühlte „grenzenlose“ Freiheit in Kindertagen, wo wir ohne Erwachsene den Wald erkundeten, in Burgruinen nach Schätzen suchten, an Bächen Wasserräder bauten, Wanderstöcke schnitzten oder Laubhütten bauten. Keine „Bespaßung“ von außen war nötig, der Harzer Wald bot alles, was uns interessierte. Und so ergeht es mir auch heute noch.
Danke für diese Anregungen und auf zur nächsten Wandertour, den Spuren Heines folgend.
Vielleicht begegnen wir uns dabei einmal. Ich würd mich freuen. Ja, es ist erstaunlich, Kindheit ist auch denkbar ohne Animation und Spielzeugberge…
Herzlichen Dank für die freundlichen Worte!
Beste Grüße
Ihr Wolfgang Brauer