Ins Blaue hinein. Die AfD und der Osten

von Erhard Weinholz

Es ist bald vierzig Jahre her, dass ich den ersten AfD-Satz gehört habe, und zwar in einer Kaufhalle in Berlin-Prenzlauer Berg. Da versuchte ein Mann, vielleicht zweite Hälfte Dreißig, sich ziemlich weit vorn in die Kassenschlange zu zwängen. Eine Frau wies ihn zurecht, seine Antwort: Halt’s Maul, du Ziege! Ich war platt – etwas dieser Art hatte ich bislang im öffentlichen Raum noch nie gehört. Gab es Antworten? Ich weiß es nicht mehr. Später kamen die jungen Neonazis, die den Hitlergruß zeigten und Punks verprügelten. Und die schwarz-weiß-roten Fahnen bei den Leipziger Montagsdemos, nicht viele, aber gut sichtbar. Und es kam Rostock-Lichtenhagen, da waren sie schon keine kleine Minderheit mehr. Als die AfD vor zwölf Jahren bei der Bundestagswahl knapp unter fünf Prozent blieb, dachte ich, der Kelch würde an uns vorübergehen, aber das war ein Irrtum.


Caspar David Friedrich: Wanderer über dem Nebelmeer (1818), Hamburger Kunsthalle. Foto: W. Brauer (2025)

Wenn ich auf meinem PC den Mail-Account aufrufe, habe ich erst einmal einen bunten Bildschirm: Werbung bedrängt mich – klick hier … hier … hier –, Merz zeigt seinen Dackelblick, der Fall X. bleibt ungelöst, und zwischen alledem wurde gestern im Post eines t-online-Mitarbeiters der Anfang vom Ende der AfD verheißen. Man hofft ja immer noch, daß der Kelch …, also habe ich den Text von A bis Z gelesen – und fand ihn enttäuschend. Sein Autor nannte zunächst, im Anschluss an den vielzitierten Stefan Mau, drei Gründe für das Erstarken der AfD im Osten.

Zum einen dessen soziostrukturelle Unterprivilegierung – das durchschnittliche Haushaltsvermögen sei im Westen doppelt so hoch wie im Osten, er steuere nur zwei Prozent zur Erbschaftssteuer im Lande bei usw. Was ja alles stimmt. Aber weshalb soll der Umstand, daß mein Nachbar doppelt so vermögend ist wie ich, für mich ein Grund zur Aufregung sein? Und wenn, müsste man sich dann nicht eher auf die DKP orientieren als auf die AfD? Man könnte noch Weiteres fragen; auf alle Fälle erklärt das Faktum selbst erst einmal nichts, es muss, um darüber zum AfD-Wähler zu werden, noch einiges dazukommen. Aber was?

Ein zweiter Grund, so heißt es, sei demographischer Art: Im Osten sei durch Wegzug jüngerer, gut ausgebildeter Frauen eine stark männlich geprägte, weniger gebildete Bevölkerung zurückgeblieben, die anfälliger sei für die von der AfD gebotenen Feindbilder. Das kennen wir doch: DDR – Der Doofe Rest. Ich habe im Netz nach Zahlen gesucht: In der Bevölkerungsgruppe der 19- bis 29jährigen kommen auf 100 Frauen in Sachsen-Anhalt 115 Männer, in Brandenburg 114, in Thüringen 113, in Niedersachsen und Baden-Württemberg 111, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Sachsen und Bayern 110 … Die Differenz zum Westen ist also allenfalls minimal. Es gibt im Osten sicherlich ländliche Regionen mit stärkerem Männerüberschuss und einer Tendenz zur Verrohung der Sitten – aber vermutlich gibt es die im Westen auch. Als Erklärung für die AfD-Erfolge ist der Umstand also wenig geeignet, ist vielleicht für ein, zwei Prozentpunkte verantwortlich.

Dritter Grund: Die politische Kultur im Osten sei eine völlig andere; basisdemokratische Ansätze, wie sie das Neue Forum oder die Runden Tische geboten hatten, seien dem Westen dysfunktional oder gar gefährlich vorgekommen, was der Osten als ausgebremste Demokratisierung erlebt habe, und dies wiederum habe das Mißtrauen gegenüber den West-Parteien verstärkt usw. Mehr Demokratie wagen – AfD?!? Gerade bei der Argumentation in diesem dritten Punkt stimmt so gut wie nichts, aber die Richtigstellung wäre mir zu mühsam, ich lasse es. Wichtig in diesem Post: Der Hinweis, dass sich Ostbürger oft als Deutsche zweiter Klasse fühlen – hier wirkt noch vieles aus dem Ost-West-Verhältnis zu DDR-Zeiten weiter.

Fragt man nach den Erfolgsgründen der AfD, sollte man noch eines beachten: Es ist nicht unbedingt logisch, was in den Köpfen der Menschen vorgeht. Aber auch die Unlogik hat ihre Logik. Letztes Jahr war ich zur Kur in einer waldreichen Gegend, wo des Öfteren ein mir unbekannter Vogelruf zu hören war. Ich fragte eine Frau, die mit ihrem Hund unterwegs war, was das wohl sein könne, Antwort: Vielleicht eine Adlerart, die nisten da hinten am See. Früher, so die Frau weiter, standen die auf der Roten Liste, aber der Habeck hat die ja gestrichen … Ich hätte nun fragen müssen, was Wirtschaftsminister Habeck mit der Liste bedrohter Arten zu tun hat, aber die Antwort verblüffte mich derart, daß ich nichts mehr sagte.

Die genannten drei Punkte erklären also an sich ziemlich wenig, beziehen obendrein die Entwicklung im Osten bis zur 89er-Revolution nicht ein und weisen ihm, das erwähne ich hier nur am Rande, die Rolle des Opfers zu. Das ist er zwar auch, aber bei weitem nicht nur. Als Lösung empfiehlt der Post-Autor (wie manch anderer auch) das Ost-West-Gespräch auf Augenhöhe. Doch wie soll es zustande kommen bei derart ungleichen Partnern, bei Partnern in derart ungleicher Lage? Dies zum einen. Zum anderen bleibt unklar, wieso Gespräche dieser Art überhaupt etwas bringen können, da sie doch an den angeblichen Gründen des Erstarkens der AfD nichts ändern? An den tatsächlichen Gründen, soweit sie sich erschließen lassen, ändern Gespräche allerdings ebenso wenig. Im übrigen fällt mir auf: Wenn von den Wahlerfolgen der AfD in Deutschland die Rede ist, geht es so gut wie immer um den Osten – obwohl sie dort kaum besser dasteht als ähnliche Gruppierungen in einer Reihe anderer Länder. Wäre es angesichts dessen nicht auch sinnvoll zu schauen, weshalb sie (bis jetzt) im Westen nicht so erfolgreich ist? Ein Gedanke, den ich hier aber nicht weiter verfolgen will.

Hinter der Rechtsentwicklung zu DDR-Zeiten, hinter der heutigen Unterstützung der AfD stand bzw. steht zunächst einmal ein ausgeprägter Egozentrismus materieller wie auch mentaler Art, eine Verweigerung jedweder Solidarität, derzeit beispielsweise mit der Ukraine: Wir brauchen unser Geld alleene! Man könnte meinen, solche Haltung verstehe sich hier von selbst, die Feststellung sei also tautologisch – ich denke aber, man sollte sie dennoch erwähnen; der Autor des genannten Posts tut es nicht. Doch woher rührt dieser Egoismus, der ja sicherlich keine Nationaleigentümlichkeit der Deutschen ist? Ich vermute, er ist dem Menschen angeboren, muss aber nicht allein deshalb schon derart bestimmend werden. Hier im Osten ist er, der Gedanke ist sicherlich schon des öfteren geäußert worden, vor allem kompensatorischer Art: Er soll darüber hinweghelfen, daß man von den Landsleuten im Westen nicht für voll genommen wird; die Antwort ist Hass auf Linke, Grüne, Schwule und insbesondere auf Ausländer, eine Herabwürdigung dieser gesellschaftlichen Gruppen, mit der man sich die eigene Überlegenheit zu beweisen sucht.

Dazu gesellt sich das Gefühl, materiell zu kurz zu kommen, während den Ausländern bekanntlich alles vorn und hinten reingesteckt wird. In dem Zusammenhang richtet sich die Aggression dann auch gegen die Regierung, nicht zuletzt, weil sie diese Leute ins Land geholt hat, und die Regierung sitzt für den echten Ostler immer noch in Bonn. Dass sich solches Denken ausbreitet und oftmals ungebremst äußert, hat sicherlich noch viele weitere Gründe, hängt auch mit der Orientierung des Staates und insbesondere von Polizei, Verfassungsschutz und Justiz zusammen: Der Beschuldigte rief „Sieg Heil“ und schlug dem B. mehrmals ins Gesicht. Eine eindeutig rechte Motivation ist nicht zu erkennen. Das ist fiktiv, aber meines Wissens wirklichkeitsnah. Ich glaube aber nicht, dass weitere Analysen rechter Denk- und Handlungsmuster uns klarer erkennen lassen, was zu tun sei gegen solche Entwicklung. Mit mehr Geld, wie Punkt 1 der Argumentation des Post-Autors nahelegt, ist der Schaden jedenfalls nicht zu beheben – den Deutschen im Osten geht es finanziell / materiell so gut wie nie zuvor. Es ist kein verletztes Gerechtigkeitsgefühl, das sie antreibt, sondern der Neid auf andere, die sie für minderwertig halten. Massenwirksame Gegenmittel scheint es nicht zu geben, der Wind weht, wie er will; doch nichts zu tun macht die Sache auch nicht besser, im Gegenteil.


Caspar David Friedrich: Der Chasseur im Walde (um 1813), Privatbesitz. Foto: Sammlung W. Brauer

Dass sich die zerstörerischen Kräfte der kapitalistischen Ordnung in voller Stärke erst nach dem Untergang jenes Systems zeigen werden, das hier als Sozialismus firmierte, ist seinerzeit mehr als einmal prophezeit worden. Solche Prophezeiungen mußten aber, selbst wenn man sie ernst nahm, folgenlos bleiben, die 89er-Revolution wurde nicht aus bloßem Übermut gemacht. Es war aber in der ganzen vorherigen Entwicklung angelegt, dass sie in die Kapitalherrschaft und deren Demokratie mündet. Jene sozialistische Linke, die ihren Namen verdiente, konnte die hier herrschenden Verhältnisse nicht verteidigen, aber sie würde, das war mir frühzeitig klar, auch ihre eigene – freiheitlich-demokratische – Sozialismus-Idee nicht verwirklichen können. So richtig zeigt sich das Problematische dieser Lage aber erst heute.

9 Kommentare

  1. Lieber Erhard Weinholz,
    vielen Dank für den anregenden Text! Es lohnt, gründlich nachzudenken. Ich schätze sehr die Stadt Halle, genieße jeden Aufenthalt in der recht eigenwilligen Saalestadt. Doch zuletzt – im September – schienen mir selbst dort gewisse sicher geglaubte Dämme bereits gebrochen zu sein. Sachsen-Anhalt wird nächstes Jahr zum schweren Prüfstein werden.

    1. Lieber Holger Politt,
      in Halle habe ich einst mein Abitur gemacht, aber das ist lange her. Später, nach 1990, war dort die Linke stark, in Halle gab es auch eine der größten Basisgruppen meiner Bürgerbewegung, der Initiative für eine vereinigte Linke. Ansonsten war die Stadt ja erst einmal eine FDP-Hochburg. Von alledem scheint nichts geblieben zu sein. Ganz und gar befriedigende, allumfassende Erklärungen der Entwicklung scheint es nicht zu geben, auch meine Überlegungen bieten sie nicht. Erst recht gilt das aber für Kowalczuks Vorstellung, die Leute würden sich der AfD zuwenden, weil es in der Diktatur so schnucklig war, man sich um nichts zu kümmern brauchte usw. Das ist kompletter Unsinn. Ich frage mich, wie Ramelow auf die Idee kommt, K. einen der besten Kenner der DDR-Verhältnisse zu nennen. Na gut, wenn er mit ihm redet, muß er ihn als kompetent hinstellen, eine Demontage ist in dem Fall unmöglich.
      Viele Grüße: Erhard Weinholz.

  2. Ich stimme Holger Politt zu: Ein sehr anregender Text, auch wenn er einen ähnlich ratlos zurücklässt wie den Autor. Dieser deutet ja auch selbst an, dass es allen – notwendigen! – Erklärungsversuchen zum Trotz, bei allem die Komponente der Irrationalität eine Rolle spielt. Und was dieser zugrunde liegt, bleibt auch dem geistig bestausgerüsteten Materialisten oft genug verborgen. Nicht unbedingt für immer, aber grade in Entwicklungsstadien von Prozessen. Und was dann bestimmend gewesen ist, wenn es erstmal zum Verhängnis geführt hat, wird oftmals erst offenbar, wenn besagtes Verhängnis eingetreten ist.
    Bitte öfter Texte wie den von Erhard Weinholz,
    Manfred Erdmann

    1. Diesbezüglich ist auch zu empfehlen, in LeBons „Psychologie der Massen“ zu schauen: Die Masse schafft emotionale Resonanzräume, in denen sich affektive Impulse schnell verbreiten. Individuelle Urteilsfähigkeit wird zugunsten eines gemeinschaftlichen Impulses suspendiert…
      Renate Lunau

      1. Liebe Frau Lunau,
        LeBons Buch, das ja wohl ein Klassiker ist, habe ich nicht gelesen, und jetzt werde ich es auch nicht mehr nachholen (der Mut zur Lücke).
        Es ist ja bekannt, daß Menschen im Schutze einer Gruppe mitunter dazu neigen, die sog. Sau rauszulassen. Aber massenhafte Verhaltensweisen kann das sicherlich nicht erklären. Ich muß allerdings sagen, daß mir der Begriff „Masse“ problematisch vorkommt – er hat hier für mein Empfinden etwas Abwertendes an sich, und Masse sind immer die anderen. Aber in Wahrheit helfen der Intellekt und die individuelle Urteilsfähigkeit, die dadurch gegeben sein müßte, oft auch nicht weiter: Ahnungslos, wenn nicht gar begeistert sind in diesem Land hier Intellektuelle (und auch große Teile des Bildungsbürgertums) mehr als einmal ins Unglück gerannt, siehe 1914, als nur eine ganz winzige Minderheit sich gegen die allgemeine Kriegsbegeisterung gestellt hat. Unter anderem hängt das wohl damit zusammen, daß der bloße Intellekt, die sog. instrumentelle Vernunft, nicht viel bringt, es muß noch ein Gespür für das Soziale hinzukommen. Es gäbe dazu noch vieles zu sagen, aber ich belasse es mal bei dem Wenigen hier.
        Viele Grüße: Erhard Weinholz.

    2. Lieber Manfred Erdmann, überhaupt liebe Blog-Leserinnen und -Leser,
      ganz hilflos ist man vielleicht doch nicht: Heute kam die Mail einer verdi-Mitarbeiterin mit Angeboten und Diskussionsmöglichkeiten zum Thema „Strategien gegen rechten Kulturkampf“, wo es zum einen um rechte Muster und Kampfbegriffe gehen soll, zum anderen um die Frage, wie man sich gegen rechte Angriffe usw. zur Wehr setzt. Das ist zwar nicht viel, aber immerhin …
      Ansonsten: Danke noch für das Text-Lob, das der Autorenseele wohltut.
      Viele Grüße: Erhard Weinholz.

  3. Auch ich finde, dies ist ein schöner Beitrag. Selbst wenn er für uns mehr oder minder „Angegraute“, also die, die man im Westen „Boomer-Generation“ nennt, nicht allzuviel Neues enthält. Doch den Weg der Selbstvergewisserung soll man ja nach Möglichkeit täglich beschreiten.
    Darüber hinaus möchte ich auf ein Problem hinweisen, das sich vermutlich nicht nur mir allein stellt: Ständig wird über „Rechts“ geschrieben, gesprochen, manchmal gar gekreischt. Was aber ist denn dieses „rechts“? Und ist alles, was nicht „rechts“ ist, dann „links“? Steckt zwischendrin womöglich gar ein „rechts-links“ oder ein „links-rechts“? (Die ursprünglich Herkunft der beiden Bezeichnungen aus dem „alten“ Parlament ist mir natürlich bekannt.)
    Will sagen: Es ist natürlich leicht, mit Begriffen, sogar „Kampfbegriffen“, zu operieren, wenn niemand nach der genauen Definition fragt. Das will ich (übrigens nicht zum ersten Mal) an dieser Stelle einfach mal tun.
    Und zum Schluss ein kleiner Scherz: Wer, zum Teufel, ist dieser Kowalczuk?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert